Der Friedens-Glühschwan

■ Ein Andachtskonzert in der Potsdamer Theaterruine

Das Letzte will erleuchtet sein. Gemeint ist nicht eine transzendentale Luzidität, sondern schlicht die Sichtbarkeit. Wäre das Letzte nicht beschienen — wie könnten wir wissen, ob es nicht das Vorletzte ist? Schließlich heißt es auch: »Der Letzte macht das Licht aus.«

Von Peter Blie

Läßt man sich willenlos in der Masse treiben, verschlägt es einen mitunter zu den merkwürdigsten Plätzen. Plötzlich stehe ich dort, wo sich sonst nur Wochenend- Berlinbesucher ein Stelldichein geben: auf dem Breitscheidplatz, vor der Gedächtniskirche. Hunderte von Kerzen brennen für den Frieden. Junge Menschen beten gegen den reinen Krieg einesteils und gegen den heiligen andernteils.

»Welch archaisches Bild«, sagt ein Mann neben mir. Auch er nutzt offenbar die in den letzten Tagen medial für außergewöhnlich erklärte Situation, um wildfremde Menschen auf anonymster Straße anzusprechen. »Denn eigentlich fing mit dem Licht doch das ganze Schlamassel an. Kulturgeschichte beginnt im Schein des kontrollierten Feuers und schwingt sich auf zur Moderne mit der Handhabbarkeit von Elektrizität. Die Glühbirne leuchtet die Welt bis in die letzte Ecke aus. Doch damit nicht genug: wenn die künstliche Lichtquelle hinter vorbeiziehenden Zelluloidbildern brennt, verdoppelt sie die Wirklichkeit auf der Leinwand des dunklen Kinos. Und schließlich ist unser primärer Wirklichkeitsproduzent nichts anderes als eine modifizierte Glühbirne: der Fernsehbildschirm. Würde er erlöschen — das wäre wirklich das Letzte.«

Ich vertrete entschieden den neu- populistischen Standpunkt, daß ein Ausfall der Fernsehbildproduktion unter den gegebenen Umständen eine gewisse Entlastung für meine durcheinandergeratenen Wirklichkeitssinne bedeuten könnte. Und schon sind wir mitten im Gespräch.

Der Mann, er stellt sich als Jürgen Skar, Berufsmusiker, vor, redet mir von »Lernen durch Leiden«: Leid dürfe eben nicht in ein Dunkel des Unbewußten verdrängt werden. Vielmehr sei es unsere Aufgabe, der Stimme des Leidens in ihrer strahlenden Helligkeit gewahr zu werden. Gegen Angstlehrer bin ich empfindlich und möchte gerade zu meinem kleinen Plädoyer für die Unbetroffenheit ansetzen, da rücken störende Senatssöldner an, und wir verschieben den Disput auf einen späteren Termin.

60 Watt, matt, Normalsockel

»Hören Sie es? Sie können es ganz deutlich hören. Wie es sirrt.« Mein neuer Bekannter winkt mich heran. Völlig überraschend und ohne telefonische Voranmeldung besucht er mich bereits am nächsten Tag. Jürgen Skar ist, wie bereits erwähnt, Künstler. Und sein Verhalten ist — wie bei Künstlern so häufig — ungewöhnlich.

Denn kaum haben wir uns zu einem Teegeplauder niedergelassen, steht er mit einem — »Sie erlauben doch« — auf, geht in meiner Wohnung umher und knipste sämtliche Lichtschalter an. Am hellichten Tag.

Konzentriert biegt er seinen Kopf unter jeden Lampenschirm, neigt sein rechtes Ohr der Glühbirne zu und schüttelt nach wenigen Momenten des Innehaltens verneinend den Kopf. Endlich scheint er zufrieden. Mitten in der guten Stube bleibt er stehen, zeigt zur Deckenlampe und sagt: »Da haben wir ihn. Den Schwanengesang.«

Nun verfüge ich nicht über das feine Ohr eines Musikers. Mit anderen Worten: ich höre gar nichts. Doch das mag mein Gast nicht auf sich sitzen lassen. Er eilt in meine Küche, findet auf Anhieb die Trittleiter und stellt sie unter der Deckenlampe auf. Es hilft alles nichts: ich muß auf die Leiter. Und tatsächlich höre ich jetzt ein leises Singen. Was es mit diesem Geräusch auf sich habe, frage ich Jürgen Skar von meinem erhöhten Standpunkt.

»Rein elektrophysikalisch gesehen«, ruft er nach oben, »müssen Sie sich das so vorstellen: der Glühfaden aus Wolframdraht hat eine Normalschwingung von 50 Hertz und verdampft dabei Wolframatome, die von dem indifferenten Gas im Glaskolben wieder auf den Draht zurückgeworfen werden. Sonst würde der Draht viel zu schnell verglühen. Bei dem Hin und Her der Atome wird der Glühdraht trotzdem immer dünner und produziert somit eine andere Schwingung; die können wir jetzt hören. Doch das ist alles nicht so interessant.«

Entschieden gewillt, unsere Konversation in einer angemessenen Haltung fortzuführen, steige ich von der Leiter und bitte meinen Gast, ebenfalls in einem Sessel Platz zu nehmen. Kaum sitzen wir, öffnet er seine große, altmodische Aktentasche und sagt: »60 Watt, matt, Normalsockel. Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Sie geben mir diese singende alte Glühbirne — die macht es eh nicht mehr lange — und ich gebe Ihnen dafür eine fabrikneue.« Seine Aktentasche ist prall gefüllt mit Glühbirnenpackungen der verschiedensten Ausführungen. Ich willige in den Tausch unter der Bedingung ein, daß er mich an den Geheimnissen der singenden Birne teilnehmen läßt.

Weißes Rauschen der Schwäne

Also stelle ich mich wenig später im Tonstudio meines neuen Bekannten ein. In dem großen Raum befinden sich vier kleine Kabinen, ähnlich wie Telefonzellen. Durch die Glasscheibe der Kabinentüren sehe ich jeweils eine von der Decke hängende leuchtende Glühbirne. Darunter ein Mikrophon, das mit einem langsam laufenden Tonbandgerät außerhalb der Kabine verbunden ist. Jürgen Skar dreht am Lautstärkeregler eines dieser Geräte, und ich höre ein feines Summen.

»Das ist er. Der Schwanengesang der Glühbirne«, seufzt der Künstler. »Das Wehklagen über den bevorstehenden Tod. Sie sind mit dem Motiv vertraut?« — Ich verneine.

»Schon in einer Darstellung aus der vorgriechischen Zeit finden wir einen Schwanenkopf am Instrumentrahmen eines kykladischen Harfners. Später wird er der heilige Vogel Apolls. Zeus erscheint Leda bekanntlich als Schwan. Schwäne besaßen auch prophetische Gaben. Wer ihren ahnungsvollen Gesang zu deuten wußte, erkannte die Zukunft. Die musikalische Einordnung der weißen Vögel können wir dem nördlichen Sternenhimmel entnehmen, wo das Sternbild des Schwans mit dem der Leier benachbart ist. Und schließlich das anrührendste Bild: Der Schwanengesang, jene hellen, klagenden Laute der im Eis eigefrorenen und dem Tod geweihten Schwäne.«

Die Stimme des Künstlers zittert, fängt sich aber wieder, und er setzt seinen Vortrag fort: »Doch es ist mehr in jenem Schwanengesang meiner Glühbirnen. Nach der Theorie von Marconi ist jedes Geräusch, also auch jeder gesprochene oder gesungene Ton ewig. Das heißt, die Schallwellen werden zwar schwächer, verschwinden aber nicht völlig. Wirkliche Stille kann es also nicht geben, was auch der amerikanische Komponist John Cage bestätigt, wenn er vom >weißen Rauschen< der Atmosphäre spricht. Dieses weiße Rauschen verdichtet sich nun im marconischen Sinne zu jenem singenden Geräusch meiner Glühbirnen. Hört man genau hin, vernimmt man nichts weniger als die letzten Seufzer längst Verstorbener. Hören Sie hier«, er dreht am Lautstärkeregler. Ein hohes auf- und abschwellendes Tirilieren ist zu hören, »das ist Isolde im Liebestod. Und hier«, er dreht an einem anderen Knopf, »der alte König im >Parzival<.« Das tiefe, flackernde Brummen muß von jener großen Concentra-Birne hinter der Glasscheibe kommen.

Zerspringende Erinnerung

Schließlich erklärt mir Jürgen Skar noch, daß er die verschiedenen Schwanengesänge seiner Glühbirnen thematisch gruppiere und ausgewählte Sterbeklänge für ein Konzert jeweils zum Jahreswechsel und zu sonstigen besonderen Anlässen zusammenstelle. »Unglücklicherweise ist heute so ein Anlaß. Sechs Tage Golfkrieg und noch kein Ende. Ich darf Sie doch einladen?«

Inzwischen ist mein Interesse an dem Kurzschluß von Musik und Zeitgeschehen tatsächlich so weit geweckt, daß ich mich zu diesem Konzert einfinde, obwohl es vor den Toren Berlins stattfindet. Ältere Herrschaften zwischen 30 und 50 Jahren, Menschen also, die man derzeit selten bei Protestaufmärschen antrifft, gehen vorsichtig mit teuren Schuhen durch die staubigen Beton-Kellergewölbe der Neubauruine des Potsdamer Theaterbaus. Gut 200 dieser Exklusivprotestler versammeln sich in einem mit weißem Samt ausgeschlagenen Raum und tauschen mit leiser Stimme die neuesten Eskalations- Szenarien aus: »... wenn der Irak die Türkei angreift ... die moslemischen Republiken im Süden der UdSSR verfügen schließlich über atomare Gefechtswaffen ... Sie müssen auch die arabische Seele verstehen ... ich als Freund der Israelis ...«

Schließlich tritt der Künstler vor sein ausgewähltes Publikum. Jürgen Skar dankt für das Erscheinen anläßlich dieser grauenvollen Situation. Ihr habe er seinen »Schwanengesang für acht Glühbirnen« gewidmet. Dann stellt er die Themen vor: »Die Fünf von Riga, Die letzten Worte des Pythagoras, Der Mauerfall, Tomahawk im Luftschacht, Untergang der Titanic, Patriot trifft Scout, Alexanders letzte Schlacht, Goethe auf dem Sterbebett: >Mehr Licht!<«

Er verdunkelt den Raum und schaltet die Tonbandmaschine an: Ein feines Summen wird von einer zweiten Stimme überlagert, es mischt sich ein dritter pfeifender Dauerton ein. Die Anfangstöne treten leise zurück, neue Töne kommen knisternd dazu, modifizieren sich in ihrer Frequenz. Klagend und lockend, zögernd und drängend. Lauter letzte Worte. Plötzlich ein erstes spitzes »Pling«: der letzte Hauch einer Glühbirne. Ein Glühschwan nach dem anderen erstirbt mit diesem Geräusch eines berstenden Kolbens oder dem einer zerspringenden Geigensaite.

Mit dem endgültigen »Pling« der letzten Stimme gehen die Lichter im Raum wieder an. Dezenter Beifall signalisiert Ergriffenheit. Als ich den Künstler um einen Mitschnitt seines Konzerts bitte, bedeutet er mir ernst: »Lassen wir die Vögel und ihr heiliges Wissen ruhen. Eine Kopie von Krieg und Ende — sie wäre das Letzte!«