Vernagelter Horizont

Uraufführung von Georg Seidels nachgelassenem Stück „Villa Jugend“ am Berliner Ensemble  ■ Von Sabine Seifert

Diesen Normalfall von Kap Arkona bis Adorf im Erzgebirge, um auf dem hiesigen Teppich zu bleiben, den hab ich zusammengepreßt, das Allgemeine auf eine Nadelspitze gesetzt, da muß es sich bewegen, reibt sich in dieser Enge, hat nicht Raum für große Gesten und Gedanken - alles klingt nur an, bleibt in der Andeutung, wird von der nächsten Andeutung überholt, alles ist in sich monologisch, was die Reibung der Figuren bewirkt und das Spiel trägt. (Georg Seidel über „Mein Theater“)

Es zog ihm dem Teppich unter den Füßen weg. Bis zuletzt, bis zu seinem Tod im Juni 1990 arbeitete Georg Seidel an „Villa Jugend“, während sich um ihn herum die alte Welt in eine neue Welt und das neue Deutschland in ein anderes Deutschland verwandelte. „Villa Jugend“ befaßt sich nicht mit diesen Geschehnissen, sondern umreißt atmosphärisch die Zeit davor. Das Stück ist nicht mehr fertig geworden, der Dramaturg Jochen Ziller und der Regisseur Fritz Marquardt, mit denen Seidel bereits hinsichtlich der Uraufführung zusammengesessen hatte, haben aus dem nachgelassenen Arbeitsmaterial eine Probenfassung erstellt (veröffentlicht in Heft 12/90 von 'Theater der Zeit‘).

Leider nicht als Werkstattaufführung, sondern im großen Haus kam „Villa Jugend“ nun heraus und rückt damit alle dramaturgischen Schwächen des Stücks ins Rampenlicht. Tatsächlich klingt vieles nur an, bleibt in der Andeutung ganz allgemein, verliert sich wieder. Ein relativ großes Figurenarsenal tritt auf und bald auch wieder ab, ironische Details werden nicht durchgehalten oder aber wie die wenigen prägnanten Stellen ausgewalzt.

Zwar gibt es kernige Sprüche im Stück, etwa: „Ich habe die Blasmusik aufgebaut.“ Auch philosophischer Natur: „Wenn unten der Sarg zusammenbricht, dann bricht auch oben alles zusammen.“ Mal ganz witzig, mal bloß pathetisch. Es gibt die ironischen Details: die roten Rosen, die Frau Neitzel nacheinander von ihrem Mann, ihrem Sohn und einem Freund verehrt werden; die Nachmieter ihres Hauses halten sich Topfpflanzen. Als Frau Neitzel beerdigt wird, bringen die Friedhofsbesucher wieder Blumen und legen sie auf ihren Stuhl, einer nach dem anderen tritt vor und zieht den Gag in die Länge.

Die Bühne ist ein trichterförmiger Raum in schwarzweiß, an dessen Fluchtpunkt am hintersten Ende der Bühne sich eine Tür befindet. Jede Figur des Stücks muß einzeln antreten, der Aufmarschweg ist lang. Einmal angekommen, spricht der- oder diejenige Sätze — wie „Ein mit Friedenstauben vernagelter Horizont, an dem sich jeder den Blick wund stößt, ist doch entsetzlich“ — zum Publikum, nicht etwa zu einem seiner Mitspieler, mit denen er sich immerhin zu einem starren Gruppenbild vereinigt.

Frau Neitzel sitzt vorzugsweise mit gradem Rücken auf einem Stuhl, die Tochter Valeska hält während des Sprechens die Hände in den Taschen, Sohn Lutz imitiert furchtsam den Vater, dessen leises Zittern die zurückgehaltene Energie verrät. Alle stehen frontal zum Zuschauerraum, steif fällt Satz auf Satz. Ehekrieg: Er inszeniert Blasmusik, weil sie Piano spielt. Nun wird das Haus verkauft, das Leben der Eheleute Neitzel ist vorbei, das der anderen nicht besser.

Norbert Neitzel heißt der Protagonist und ist die interessanteste Figur aus „Villa Jugend“. Mit den Händen wühlt er in den Taschen seines verschnittenen Jacketts, die kalte Pfeife verkehrt herum im Mund. Ein gescheiterter DDR-Intellektueller möglicherweise, jedenfalls Lehrer, der einmal ans System geglaubt hat, vor kurzem sich die Pulsadern aufzuschneiden versucht hat und nunmehr illusionslos seiner Neigung zum Schachspiel nachgeht. Einen Nebenbuhler bei seiner heutigen Frau hat er denunziert, als dieser beim Trauerzug für Stalin vor lauter Ehrfurcht vergaß, die Mütze vom Kopf zu nehmen. Eine Schweinerei, wie er heute meint, aber in die eigene Tasche gewirtschaftet hat er nie. Seine Frau allerdings, die von allen verehrte und mit Blumen überschüttete, so erfährt man hinterher, betätigte sich als Spitzel.

Über welche rigiden und unerbittlichen Charaktereigenschaften dieser Lehrer verfügt, erfährt man in der einzig wirklich gelungenen Szene des Abends (weil sie wohl auch die hervorragenden Schauspieler des Stücks aufbietet: Hermann Beyer und Axel Werner). Die „Villa Jugend“ ist passé, man ist in eine Etagenwohnung in einer dreckigen Mietskasernengegend gezogen. Vorabend zum 1. Mai, der lange Genosse Bosch kommt vorbei, weil die rote Fahne noch nicht draußen hängt. Bosch und Neitzel (Bosch: „Ich war bis jetzt der einzig klare Kopf hier, jetzt sind wir zwei“) hocken mit einer Flasche Korn vor dem Schachcomputer; Reden und Spielen gleichzeitig gestattet Neitzel nicht, also reden sie. „Dienstbotenaufgang“ stehe mit roter Farbe im Treppenhaus. Bosch meint zu wissen, wer das war: der von unten, der eben bei Feuerwerk und Internationale laut Weihnachtsmusik erklingen ließ. Wieder ein Denunziant für die gute Sache.

In dieser Szene wird DDR-Wirklichkeit plötzlich konkret. Es heißt, Georg Seidel hat unter dem Provinzialismus der DDR gelitten, an der Enge, dem erstickenden Gefühl gescheiterter Lebensentwürfe. „Hier ist irgendwas zu Ende gegangen, was längst zu Ende ist“, meint Lutz Neitzel, der Sohn, und sagt weiter: „aber jetzt merke ich's erst“.

Georg Seidel: Villa Jugend; Regie: Fritz Marquardt; Bühne: Matthias Stein; mit Hermann Beyer, Christiane Gloger; Berliner Ensemble.

Nächste Aufführung: 26.1.