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Wie von einem Bazillus infiziert

Zur Strukturkrise im deutschen Theater — ein Gespräch mit dem Intendanten des Mannheimer Nationaltheaters Arnold Petersen  ■ Von Jürgen Berger

Daß Deutschlands Theaterintendanten und mit ihnen ganze Mannschaften rasant ihre Arbeitsplätze wechseln, gehört inzwischen zum Alltag. Als allerdings Mannheims Theaterchef, Arnold Petersen, sein vorzeitiges Ausscheiden aus dem Amt verkündete, hinterließ das einen nachhaltigen Eindruck. Er verband seinen Entschluß mit einer Kritik an den internen Theterstrukturen — eine Kritik aus berufenem Munde, denn Petersen gilt als erfahrener Theatermann und leitete die letzten fünfzehn Jahre die Geschicke des Mannheimer Nationaltheaters. Außerhalb seines Hauses ist er im Verwaltungsrat und mehreren Gremien des deutschen Bühnenvereins tätig. Er wußte also genau, warum er vor einigen Monaten in einem Interview mit der Zeitschrift 'Theater heute‘ öffentlich machte, was intern schon längere Zeit diskutiert wird: Das Theater befindet sich in einer Strukturkrise und kann seinen künstlerischen Standard nur halten, wenn es sich einer Radikalkur unterzieht. Eine Forderung, die durch die anstehende Um- und Neustrukturierung der ehemaligen DDR-Bühnen um so dringender erscheint. Dieses Interview ist der Auftakt zu einer Reihe von Beiträgen, die sich in loser Reihenfolge mit dem Thema beschäftigen werden.

taz: Herr Petersen, sie sagen, daß die künstlerischen Ansprüche der Regisseure gewachsen sind, während der Theaterapparat immer unbeweglicher wurde.

Arnold Petersen: Ja, in diesen Widerspruch sind wir geraten. Theatertechnik und Verwaltung können nicht mehr ermöglichen, was die Kunst will, die Strukturen sind immer kunstfeindlicher geworden — wenn solch ein Widerspruch da ist, muß der Apparat verändert werden und nicht die Kunst. Sehen sie, ich bin ja nicht einfach damit zufrieden, einen in der Gesellschaft sehr angesehen Beruf zu haben, viel Geld zu verdienen - im deutschen Theater kann man zum Teil sehr viel Geld verdienen - und im übrigen dabei mitzumachen, wie es halt läuft. Als Intendant will ich gutes Theater ermöglichen und empfinde erst dann Genugtuung, wenn ich das Bestmögliche erzielt habe. Im großen Mehrspartentheater — wie es das ja nur in Deutschland gibt — haben der ausgewucherte und unübersichtliche technische Apparat und die Verwaltung inzwischen aber ein Eigenleben entwickelt, das zuviel von der Energie verbraucht, die eigentlich den Künstlern auf der Bühne zufließen sollte.

Was sind die Gründe? Zuwenig technisches Personal, hört man überall.

Sicher hat das damit zu tun, daß wir durch Arbeitszeitverkürzungen in Druck geraten sind, weil uns die Städte nicht mehr Stellen zum Ausgleich bewilligten. Es gibt aber einen tiefer liegenden Grund. Die Mitarbeiter in den nichtkünstlerischen Bereichen wissen nicht mehr, für was sie überhaupt arbeiten, und dadurch ist ein großer Motivationsverlust entstanden. Techniker, Verwaltungsleute und Orchestermusiker streiten dafür, immer weniger arbeiten zu müssen, während die Schauspieler, Sänger und Tänzer dafür streiten, mehr arbeiten zu dürfen.

Meinen sie, die Gewerkschaften regieren zu sehr ins Theater hinein?

Ja, die Grenzen, die die Gewerkschaften in den Theatern gezogen haben, sind zu eng. Man ist nicht bereit, Rücksicht auf die besonderen Arbeitsabläufe im Theater zu nehmen, und die Intendanten müssen immer mehr Zugeständnisse machen. Bemerkenswert finde ich allerdings, daß keiner meiner nahezu hundert Kollegen bisher so weit ging und zu den Künstlern sagte, sie sollten doch weniger aufwendiges Theater machen.

Manchmal wäre das ja vielleicht ganz angebracht.

Es würde aber nicht funktionieren. Wenn die Intendanten bei den einzelnen Inszenierungen sparen wollten, würden sie Schiffbruch erleiden und keine Regisseure und Bühnenbildner mehr bekommen. Das Theater wäre dann sehr schnell auf dem Niveau von Tourneetheatern mit einer geringen Ausstattung, Zugnummern wie Harald Juhnke oder Götz George und sehr niedrigen künstlerischen Ansprüchen.

Repertoirekürzung ist ein Zauberwort in diesem Zusammenhang. Mannheims Kulturdezernent Lothar Mark sucht gerade einen Nachfolger für Sie und meint, der müsse nach Amtsantritt das Repertoire kürzen.

Das wird heute schon so floskelhaft gebraucht, daß ich es nicht mehr hören kann. Man will einfach nicht zur Kenntnis nehmen, daß die Schwierigkeiten viel tiefer liegen. Ich kämpfe derzeit verzweifelt darum, daß abends das Theater nicht geschlossen bleibt wie in vielen anderen Städten, wo man sich der Schwierigkeiten und Probleme durch Schließtage entledigt. In Frankfurt ist es schon normal, daß Oper und Schauspiel an zwei Tagen der Woche geschlossen bleiben. In Wuppertal haben sie das Haus einfach zwischen Weihnachten und dem 6. Januar zugemacht, weil sonst die Überstunden nicht abgefeiert werden konnten. Das ist ein Trend, gegen den ich mich wehre. Ich empfinde es als pervers, ein Theater mit sehr viel Geld zu unterhalten, das dann gar nicht spielt. Eine billige Ausrede ist auch, das Haus an drei Tagen zu schließen, um angeblich an den anderen Tagen besseres Theater spielen zu können. Ich muß mich mühen, an allen sieben Tagen gutes Theater zu bieten, solange in der Bevölkerung solch ein Theaterappetit besteht. Das Mannheimer Theater zum Beispiel hat insgesamt 2.000 Plätze und ist täglich zu 85 Prozent ausgelastet. Das ist ungeheuer für eine Stadt mit 300.000 Einwohnern.

Die Spieltage werden weniger, während sich in den Führungsetagen die Intendanten vermehren. Stichwort Frankfurt.

Sicher gibt es lokal bedingte Auswüchse wie in Frankfurt, wo man inzwischen vier bis fünf Intendanten hat. Man engagierte Leiter für die einzelnen Sparten, die das Geschäft der Theaterleitung nicht beherrschen, so daß zum Ausgleich der Defizite wieder neue Mitarbeiter eingestellt werden mußten. Ähnliche Auswüchse haben wir ja auch in Stuttgart, aber für unsere Diskussion müssen wir auf die Normalfälle blicken. Sehen sie, ich bin Generalintendant für alle vier Sparten und habe noch nicht einmal einen persönlichen Referenten.

Zu ihren Verbesserungsvorschlägen. Ihr wichtigster heißt: kleinere Produktionsgruppen. Das wäre doch ein tiefer Eingriff in die Theaterstruktur.

Das wäre wirklich ein tiefer Eingriff. Man müßte zuerst einmal die ganzen Tarifverträge in ihrer jetzigen Fassung aufkündigen, damit eine gemeinsame Arbeitszeit für alle Mitarbeiter im künstlerischen und nichtkünstlerischen Bereich angestrebt werden könnte. Es ist unsinnig, daß ein Bühnenarbeiter morgens am Bühnenbild arbeitet und abends zu den Vorstellungen nicht da ist. Sinnvoller wird das nur, wenn man wieder kleine Produktionsteams im Theater einführt und sagt: „So, ihr macht jetzt den ,Tasso‘.“ Bühnenarbeiter, Verwaltungsleute und Schauspieler arbeiten gemeinsam an dieser einen Sache und regeln untereinander, wer zu welcher Zeit am sinnvollsten im Rahmen der vorgegebenen Wochenarbeitsstunden arbeitet. Dadurch würde sich der Apparat wieder an die theaterspezifischen Prozesse anpassen, und es wäre klar, daß in Nähe des Premierentermins, wenn der künstlerische Apparat wie von einem Bazillus infiziert ist, abends um elf Uhr nicht das Licht ausgehen darf. Wenn die Künstler an einem Punkt sind, wo sie unbedingt weitermachen müssen, könnte man das besprechen und dafür am nächsten Tag ein bis zwei Stunden später kommen. Das geht aber nur mit einer flexiblen Arbeitszeitregelung, und wenn in dieser Richtung nichts geschieht, steht eines Tages überall „Cats“ auf dem Spielplan, und zwar fünf Jahre am Stück.

Das bedeutet doch auch etwas für das Verhältnis von Theater und Stadt. Zwar müssen die Theater nicht zu privatwirtschaftlichen GmbH's umfunktioniert werden, aber unabhängiger von Ämtern sollten sie doch sein.

Natürlich müssen Intendant und Verwaltungschef den Gremien, Dezernenten und Oberbürgermeistern Rede und Antwort stehen. Aber die Theater sind in zu starkem Maße in Abhängigkeit von Ämtern wie dem Personal- und Kämmereiamt geraten, und das muß sich ändern. Es hat ja solche Formen angenommen, daß ich sagen würde, das Theater ist inzwischen selbst eines der unzähligen städtischen Ämter. Ein Theater unterliegt aber ganz anderen Gesetzen als ein Amt, und daß hier so etwas Ungreifbares wie Kunst produziert wird, das will man nicht wahrhaben. So werden immer mehr Regelungen über das Theater gestülpt, die für andere Ämter sinnvoll, für das Theater aber schädlich sein können.

Tarifverträge aufkündigen, sagen sie. Damit würde man sich an eine heilige Kuh wagen.

Man kann auch sagen, Verkrustungen müssen endlich aufgelöst werden. Natürlich geht das nicht so schnell, aber die Zeit ist überreif, daß die Städte, der Bühnenverein als Bundesverband der deutschen Theater und die Gewerkschaften da herangehen. Mit Kosmetik ist es nicht mehr getan.

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