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Der programmierte Pflegekollaps

Die Verkürzung des Kriegsdienstes und der Dienstzeit für Zivildienstleistende hat den Pflegenotstand noch zusätzlich verschärft/ Jahrelang haben die sozialen Träger von der billigen Arbeitskraft der Kriegsdienstverweigerer profitiert/ Jetzt treten die Versäumnisse der Sozialbehörden offen zutage  ■ Von Vera Gaserow

In den Kleinanzeigenspalten der Zeitungen füllen sie bereits eine eigene Rubrik, die Annoncen mit dem fast immer gleichen Hilferuf: „Dringend, dringend: Zivi von Schwerstbehindertem gesucht.“ Dabei machen die Aufrufe nur mosaikartig deutlich, was seit dem 30. September 1990 offenkundig ist: Mit der Verkürzung der Wehrpflicht und der Dienstzeit für Kriegsdienstverweigerer sind Zivildienstleistende Mangelware geworden.

Sie sind begehrt und rar wie eine Wohnung, aber häufig sogar noch lebenswichtiger als die vier Wände. Denn die Dienstzeitverkürzung um fünf Monate, die für die Kriegsdienstverweigerer nur recht und billig war, hat vor allem für Schwerstkranke und Behinderte dramatische Folgen. Viele von ihnen konnten bisher nur dank der Arbeit der Zivis einer Einweisung in ein Pflegeheim entgehen (siehe Bericht auf dieser Seite).

Dabei war die Misere vorprogrammiert. Als auf Beschluß der Bundesregierung im Herbst letzten Jahres die Zivildienstzeit von 20 auf 15 Monate verkürzt wurde, war klar, daß dadurch breite Lücken in der Gesundheits- und Sozialversorung entstehen würden. Denn jahrzehntelang hatten Wohlfahrtsverbände, Krankenhäuser, Altenheime und Behinderteneinrichtungen die „Zivis“ als feste und sogar stetig steigende Größe in ihren Stellenplänen einkalkuliert.

Für sie waren die zumeist sozial sehr engagierten Kriegsdienstverweigerer nicht nur hochmotivierte, sondern vor allem billige Arbeitskräfte im Sozialsystem. Ihre Arbeitgeber kosteten sie nur Kost und Logis, runde 500 Mark statt der gut 3.000, die für eine festangestellte „normale“ Pflegekraft auf den Tisch gelegt werden müssen. Gut 580 Millionen Mark, so hat die Selbstorganisation der Zivildienstleistenden errechnet, haben die Träger von sozialen Einrichtungen jedes Jahr an den billigen Lückenbüßern aus den Reihen der Kriegsdienstverweigerer gespart.

Aufwärtsentwicklung abrupt gestoppt

Kein Wunder also, daß fast alle sozialen Einrichtungen mit Wohlgefallen beobachteten, wie die Zahl der diensttuenden Zivis seit Anfang der 80er Jahre beständig stieg und bis auf die Rekordmarke 100.000 kletterte. Doch diese Aufwärtsentwicklung wurde im Herbst vergangenen Jahres durch die Verkürzung der Zivildienstzeit abrupt gestoppt. Seither prognostizieren Wohlfahrtsverbände und Pflegeheime klagend den Zusammenbruch der sozialen Versorgung.

Tatsächlich ist die Zahl der Zivis seit Ende September 1990 durch den schnelleren „Durchlauf“ eines jeden Verweigerers auf mittlerweile 80.000 gesunken. Und nach den Prognosen des Bundesbeauftragten für Zivildienst wird sich diese Abwärtsentwicklung in den nächsten Jahren noch durch einen zweiten Trend verstärken: Zusätzlich zur kürzeren Dienstzeit beschert der „Pillenknick“ der Bundesrepublik ein deutliches Minus an Zivis.

Trotzdem ist heute, drei Monate nach Inkrafttreten der Zivildienstzeitverkürzung, der erwartete Aufschrei der großen Wohlfahrtsverbände beinahe verstummt. Denn inzwischen ist den meisten von ihnen klar, daß sie mit den Zivis einen längst offenkundigen Pflegenotstand nur verdeckt hatten. „Daß der Zivildienst keine planbare Größe sein darf, wußte eigentlich jeder Verband“, deutet Achim Schmidt, Sprecher des Bundesbeauftragten für Zivildienst, die Tatsache, daß die Wohlfahrtsverbände eher kleinlaut geworden sind.

Irgendwie hat man sich über die Runden gerettet

„Der Prozeß, der absehbar war, wurde durch die Dienstzeitverkürzung nur noch beschleunigt. Das hat nur das grundsätzliche Dilemma in den Pflegeberufen noch einmal verdeutlicht“, meint mit einem Schuß Selbstkritik Ulrich Reichle, Vorsitzender des Zivildienstausschusses der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtsverbände, deren Mitglieder in den letzten Jahren nicht schlecht von den Zivis profitiert haben.

„Die große Not, die am Anfang beklagt wurde, ist meistenteils nicht eingetreten“, beurteilt Albert Weißenfels, Vorsitzender des Zivildienstausschusses im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein- Westfalen, das Ergebnis einer landesweiten Umfrage unter den Wohlfahrtsverbänden. Bei der nordrhein- westfälischen Arbeiterwohlfahrt zum Beispiel ist die Zahl der Zivildienstleistenden seit dem 30. September 1990 zwar um 20 Prozent zurückgegangen. Dennoch sei es nur vereinzelt zu Engpässen in der sozialen Betreuung gekommen.

Auch der Paritätische Wohlfahrtsverband und die Caritas im Bistum Essen meldeten ähnliche Zahlen. Statt zu 80 Prozent könnten die Zivildienstplätze jetzt nur noch zu 60 Prozent besetzt werden. Aber „irgendwie“, so lautet beinahe übereinstimmend das Fazit der großen Träger, habe man sich „über die Runden gerettet“.

Die großen Verbände wie das Rote Kreuz, die Caritas oder das Diakonische Werk haben die Zivi-Lücke mit einem Flickenteppich aus ehrenamtlichen Helfern, Honorar- und Teilzeitarbeitskräften notdürftig gestopft. Vereinzelt wurden statt der Zivis nun feste MitarbeiterInnen eingestellt, doch die sind bei der miserablen Bezahlung in den Pflegeberufen nicht leicht zu finden. Reichlich Geld müßten die Landessozialbehörden den sozialen Trägern zuschießen, um die Lücke der fehlenden Zivis mit festangestellten Kräften zu schließen. Aber, so heißt es beim Diakonischen Werk, „Geld wird bei der angespannten Haushaltslage wohl auch in Zukunft schwer zu bekommen sein“.

Während die „Großen“ der Sozialarbeit die Dienstzeitverkürzung bei den Zivis immerhin mehr recht als schlecht auffangen konnten, stehen viele kleinere Verbände und Gruppen vor dem Ruin. Sie können den Verlust der billigen Arbeitskräfte kaum verkraften. „Es gibt Teilbereiche, in denen die Arbeit jetzt faktisch zusammengebrochen ist“, berichtet Matthias Kittmann, Sprecher der Selbstorganisation der Zivildienstleistenden.

Zivis fühlen sich zunehmend erpreßt

Besonders bei den Mobilen Hilfsdiensten (MSHD) und bei der Individuellen Schwerstbehindertenbetreuung (ISB), deren Pflegepersonal bisher zu 90 Prozent aus Zivildienstleistenden bestand, herrscht akuter Notstand. „Am schlimmsten aber“, so Kittmann, „sind die dran, die sich ihre Zivildienstleistenden selber suchen müssen.“ Sie müssen sich jetzt nicht nur mit den Sozialämtern über die Kostenerstattung streiten, sondern erst einmal auf dem „freien Markt“ einen Zivi finden. Für die Rund-um-die-Uhr-Betreuung brauchen einige Schwerstbehinderte sogar vier Hilfskräfte. Fällt nur ein Zivi aus, bricht das labile Kartenhaus ambulanter Betreuung in den eigenen vier Wänden zusammen.

„Die Schwerstbehindertenbetreuung geht völlig den Bach runter“, berichtet Erhard Wieferig von den Ambulanten Diensten in Münster. Von den 50 Zivildienstleistenden, die hier im vergangenen Jahr pflegebedürftige Menschen versorgten, sind nur noch 35 geblieben. Notdürftig wird versucht, die nun freien Stellen mit Honorar- und Teilzeitkräften zu besetzen. Doch dieses Provisorium hat Konsequenzen. Die Qualität der Betreuung leidet unter dem ständigen Wechsel des unerfahrenen Personals.

Schwerstkranke, die in den Zivis häufig auch wichtige Bezugspersonen gesehen haben, müssen sich jetzt ständig an neue Gesichter gewöhnen. In beinahe allen Einrichtungen der ambulanten Schwerstbehindertenbetreuung heißt es jetzt: „Neue Fälle sind nicht drin, und die Pflegezeiten für die, die wir schon jetzt betreuen, müssen gekürzt werden.“ Und das, meint Erhard Wieferig von den Ambulanten Diensten Münster, „ist eigentlich unmenschlich. Man kann doch die Menschen nicht stundenlang in ihren nassen Pampers liegen lassen.“

Die noch dienstleistenden Zivis fühlen sich durch diese Situation zunehmend persönlich erpreßt: „Einerseits möchte man die Behinderten ja nicht im Stich lassen“, schildert Zivi-Sprecher Kittmann den Konflikt, „aber andererseits können und wollen wir für diese Misere keine Verantwortung übernehmen. Die haben die Wohlfahrtsverbände selbst verschuldet.“

Die wiederum versuchen jetzt mit einiger Verspätung die gestiegenen Kosten von den Landessozialbehörden zurückzuholen. Mit wechselndem Erfolg: Bremen und Baden- Württemberg haben nach dem Wegfall vieler Zivis zusätzliche Gelder für soziale Betreuung bewilligt. In anderen Städten allerdings müssen die Behinderten die Mehrkosten, die ein festangestellter Pfleger kostet, mühsam von den Sozialämter einklagen.

Die Stadt Münster zum Beispiel will monatlich nur 3.000 Mark für die Rund-um-die-Uhr-Betreuung eines Schwerstbehinderten zahlen. Das wäre gerade einmal ein Drittel der tatsächlich entstehenden Kosten. Den betroffenen Pflegebedürftigen bliebe dann nur noch die Einweisung in ein Heim.

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