Gorbatschows Konfrontationskurs in Lettland

Die sowjetische Führung hat auf die Unabhängigkeitserklärung mit ökonomischer Erpressung und militärischem Druck reagiert/ Volksfront vermied bislang Diskriminierung der russischstämmigen Bevölkerung/ Der ethnische Nationalismus wird stärker  ■ Von Christian Semler

Selbst wenn es keinen ausdrücklichen Angriffsbefehl der sowjetischen politischen Führung gegeben haben sollte: Der Überfall der „Schwarzen Barette“ auf das Rigaer Innenministerium wäre ohne die Konfrontationsstrategie Gorbatschows gegenüber der lettischen Unabhängigkeitsbewegung undenkbar gewesen. Schon die formale Unabhängigkeitserklärung Lettlands im Mai letzten Jahres, die für Verhandlungen mit Moskau eine mehrjährige Übergangsphase postulierte, wurde von der Sowjetunion annulliert. Das sowjetische Finanzministerium erfüllte nach dem Mai seine Zahlungsverpflichtungen gegenüber Lettland nicht, so daß die lettische Regierung den Transfer des sowjetischen Anteils am lettischen Steueraufkommen einstellen mußte. Im November stoppte die Sowjetunion die Ausfuhr von Viehfutter. Die lettische Regierung beschloß im Gegenzug, die Lieferverträge für Fleisch in die SU nicht mehr zu erfüllen. Die Unionsbetriebe, das sind alle wesentlichen Industriebetriebe des Landes, vereinigten sich zu einem Konzern und unterstellten sich ausschließlich der sowjetischen Leitung. Unter diesen Bedingungen wurde es noch schwerer, die ökonomische Reform einzuleiten.

Drückender noch wurden die politischen und militärischen Erpressungsversuche. Trotz Bitten der lettischen Regierung verstärkte das sowjetische Oberkommando während des Jahres laufend das baltische Truppenkontingent. Als das sowjetische Parlament die Anerkennung des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung verschleppte, beschloß Lettland ein entsprechendes Gesetz. Postwendend kam die Nichtigkeitserklärung seitens Gorbatschows. Über 3.000 lettische Wehrpflichtige haben sich im Verlauf des Jahres für den Zivildienst entschieden, die Mehrheit leistete dem Gestellungsbefehl keine Folge. Gorbatschows Antwort: die Verlegung der Fallschirmjägerbrigaden. Die Sowjetarmee wie die anderen zentralen Streitkräfte in Lettland nahmen das ganze Jahr über ungeniert an politischen Aktivitäten gegen die „Separatisten“ teil. Aus dem Personal der Armee und des KGBs rekrutierte sich das Führungspersonal einer Reihe prosowjetischer Gruppen wie des „Komitees zur Verteidigung der Verfassung und der Bürgerrechte der UdSSR und der lettischen SSR“, dem „Rat der Arbeitskollektive“, der „Internationalen Front lettischer Arbeiter“ und dem „Komitee der nationalen Rettung“. Da sich die Mitgliedschaft dieser Organisationen häufig überschneidet, ist es schwer, ihre zahlenmäßige Stärke festzustellen. Bei Demonstrationen sind sie nie in der Lage gewesen, mehr als einige tausend Menschen zu mobilisieren.

Dies ist um so erstaunlicher, als die moskautreue Kommunistische Partei Lettlands über eine nach zwei Spaltungen zwar geschrumpfte, aber immerhin 100.000 Mitglieder zählende, konsolidierte Organisation verfügt und ein Viertel der Parlamentssitze besetzt. Es ist den prosowjetischen Kommunisten allerdings nie gelungen, sich zum Sprecher der russischen und anderen slawischen Minderheiten, zusammen immerhin 45 Prozent der Bevölkerung, aufzuschwingen. Vor allem die russischsprachigen Letten, die seit langer Zeit in der Republik leben und in Riga längst die Bevölkerungsmehrheit stellen, neigen der Unabhängigkeitsbewegung zu. Dieser Erfolg ist das Ergebnis einer umsichtigen Politik der Volksfront-Führung, die sich mühte, den Kampf um die Unabhängigkeit in einen demokratischen Kontext zu stellen. 'Atmoda‘, das Rigaer Volksfront-Organ, erscheint zweisprachig, die Solidarität mit der demokratischen Bewegung in der Sowjetunion und der russischen Föderation unter Jelzins Leitung ist beständig. Allerdings wurde die demokratische Grundlinie der Volksfront zunehmend von einem ethnisch geprägten Nationalismus in Frage gestellt, der sich organisatorisch in der „Nationalen Unabhängigkeitsbewegung“ ausdrückte. Die von dieser Bewegung ins Leben gerufenen „Bürgerkomitees“ beharren auf lettischer „Reinheit“. Beide Tendenzen — die nationalistische wie die demokratische — sind in der Volksfront, einem Konglomerat aus neugegründeten, wiederbelebten und gewendeten Parteien, stark vertreten. Vom Ausgang dieser Auseinandersetzung wird nicht zuletzt der Erfolg des Unabhängigkeitskampfs abhängen.