Kein Bündnisfall am Parlament vorbei

■ Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Hans Stercken (CDU), hält eine Eskalation des Golfkrieges an der türkisch-irakischen Grenze für unwahrscheinlich/ Beteiligung aller Fraktionen bei der Entscheidung über den Bündnisfall

taz: Herr Stercken, für wie wahrscheinlich halten Sie es, daß die Bundeswehr in der Türkei zum Einsatz kommt?

Stercken:Ich halte das für völlig unwahrscheinlich. Die politischen Bemühungen sind auf eine Eingrenzung des Krieges gerichtet. Es macht überhaupt keinen Sinn, jetzt im Südosten der Türkei eine Ausuferung des Konfliktes anzustreben. Das entspricht im übrigen auch dem, was ich aus Kreisen der türkischen Armee höre.

Die Entscheidung darüber, ob der Konflikt an der türkisch-irakischen Grenze eskaliert, liegt ja jetzt nicht in der Hand der türkischen Militärs, sondern bei Hussein. Zum anderen hat Präsident Özal in den letzten Wochen — entgegen dem Rat seiner Militärs — eine offensive Politik im Golfkonflikt verfolgt. Sein erklärtes Ziel ist die Etablierung seines Landes als künftig erste Ordnungsmacht der Region.

Nehmen sie das Beispiel Israels. Obwohl dort die militärische Reaktion auf die Irakischen Raketenangriffe innerhalb von 48 Stunden angekündigt wurde, haben sich am Ende doch diejenigen Kräfte durchgesetzt, die an einer Ausuferung des Konfliktes nicht interessiert sind. Eine Erweiterung der Front und eine Einbeziehung anderer Länder in die Kampfhandlungen kann für das Gesamtgeschehen überhaupt kein Vorteil sein.

Was Özals Haltung betrifft, so hat er immer danach getrachtet, der türkischen Politik eine Scharnierstellung zwischen Europa und dem vorderen Orient zu verschaffen. Das ist keine neue Politik. Er hat natürlich jetzt geglaubt, daß ihm die Erfordernisse des Golfkonfliktes hierfür eine besondere Chance eröffnen. Daher erklärt sich die offensive Politik der letzten Wochen. Ich hoffe, daß es gelingt, die Türkei in weiteren Gesprächen davon zu überzeugen, daß sie nicht eine Position einnimmt, die zwangsläufig zu einer Einbeziehung des Landes in den Konflikt führt.

Ist das nicht bereits mit den amerikanischen Luftangriffen von türkischen Stützpunkten aus geschehen?

Die Türkei hat im Prinzip nichts anderes getan als 28 andere Staaten, die Streitkräfte am Golf unterhalten. Die Entscheidung der Türkei, den USA Stützpunkte zur Verfügung zu stellen, kann man auch so qualifizieren, daß sie sich damit in die Operation unter dem Rubrum der UNO hineinbegeben hat. Das war notwendig. Denn wir müssen davon ausgehen, daß sich ein Teil der Raketenstellungen, von denen Israel bedroht wird, im Norden des Irak befinden. Erst als man nach den Angriffen auf Israel gesehen hat, daß man an diese Stellungen von Süden aus nur schwer herankommt, hat man die Entscheidung für Angriffe von der Türkei aus getroffen.

im übrigen haben wir der türkischen Seite bei unseren Gesprächen auch gesagt, daß ihre Integration in die UNO-Aktion keinen Automatismus für das Eintreten des Bündnisfalles bedeuten kann. Im übrigen ist es schon aufgrund der geographischen Situation in dieser Region äußerst unwahrscheinlich, daß es zu einem Frontalangriff auf die Türkei kommt.

Nato-Generalsekretär Wörner hat immerhin schon mal vorsorglich angekündigt, daß er im Falle eines irakischen Angriffs auf die Türkei den Bündnisfall für gegeben hält.

Den irakischen Frontalangriff mit Bodentruppen halte ich, wie gesagt, für unwahrscheinlich. Ein Raketenangriff wie etwa auf Israel würde eine Eskalation von westlicher Seite aus meiner Meinung nach nicht erforderlich machen.

Die Opposition vertritt die Auffassung, das Parlament müsse mit Zweidrittel-Mehrheit über den Bündnisfall beschließen. Die Bundesregierung räumt demgegenüber dem Bundestag ein nicht näher definiertes Mitwirkungsrecht ein.

In früheren Krisensituationen, bei denen ein Bündnisfall im Bereich des Möglichen lag, ist nie an eine unmittelbare Mitwirkung des Parlamentes gedacht worden. Es ist bisher, das muß man fairerweise sagen, kein verfassungskonformes Verfahren zur Bündnisfallentscheidung entwickelt worden. Deshalb kann die Opposition jetzt mit einigem Recht ihre Forderung vortragen. Man muß allerdings sehen, daß diese Forderung weder durch die bisherige Praxis noch durch Gesetz vorgeschrieben ist.

Wie stellen Sie sich das Verfahren vor?

Alle Fraktionen des Bundestages müssen an der Entscheidung der Bundesregierung über einen möglichen Nato-Bündnisfall beteiligt werden. In jedem Fall muß es zu einer Übereinstimmung in dieser Frage kommen. Bis es zu einer verbindlichen Regelung des Verfahrens, möglicherweise auch in der Verfassung kommt, gilt die Zusage der Regierung, daß am Parlament vorbei keine Feststellung des Bündnisfalles getroffen wird. Interview: Matthias Geis