Die Allianz verschweigt systematisch Zehntausende Tote im Irak

■ Die Desinformation über irakische Kriegsopfer verhindert die Einsicht, daß der von UNO-Seite sanktionierte High-Tech-Angriff am Golf eine Massenschlächterei ist

Bonn/Berlin (taz) — Im Kampf um die Parteinahme der westlichen Öffentlichkeit spielt die Opferbilanz eine wesentliche Rolle. Wenn nur einigen Dutzend Opfern auf der eigenen Seite tausend, zehntausend oder gar hunderttausend Opfer auf der anderen gegenüberstehen, ist die Mobilisierung kriegsförderlicher Haß- und Bedrohungsgefühle in Gefahr. Was Wunder, daß der US-Oberkommandierende am Golf, General Schwarzkopf, kürzlich die Naiven belehrte, das Zählen getöteter Zivilisten sei nicht Sache der Armee. Natürlich ist diese Zahl ein militärischer „Parameter“ von mindestens taktischer Bedeutung, der unter anderem über physische und propagandistische Mobilisierungsmöglichkeiten oder aber über eine Demoralisierung im gegnerischen Lager entscheidet.

Für die Medien indes, die derzeit am Informationstropf der Militärzensur hängen und ihre Berichte und Kommentare daraus speisen, bleibt die Anzahl irakischer Toter eine Dunkelziffer: Bei den Luftangriffen auf Bagdad soll es nach Einschätzung zweier irakischer Flüchtlinge Tausende von Toten gegeben haben. Dies berichtete der SPD-Europaabgeordnete und Nahost- Experte Dieter Schinzel, der von den beiden Irakern telefonisch über die Lage in Bagdad und Umgebung informiert worden war. Nach Angaben von Schinzel haben beide mit mehreren Augenzeugen gesprochen und konnten sich somit ein realistisches Bild über das Ausmaß der Zerstörungen machen. Den beiden Irakern, deren Angehörige sich noch in Bagdad aufhalten, war vor zwei Tagen die Flucht aus dem Irak in die jordanische Hauptstadt Amman geglückt, von wo aus sie dann mit Schinzel Kontakt aufnahmen.

Nach den Aussagen der Informanten wurde auch die Altstadt Bagdads durch die Angriffe zum Teil zerstört. „Das mit den chirurgischen Angriffen auf ausschließlich strategische Ziele ist blanker Unsinn“, erklärte der SPD-Experte gegenüber der taz und beklagte die von den Medien vorgetäuschte „Computerspiel-Atmosphäre“. Nach seinem Wissen gebe es vor allem in den Außenbezirken Bagdads schwerste Schäden.

Seiner Ansicht nach können B-52-Bomber, die bei den Angriffen eingesetzt werden, überhaupt nicht auf bestimmte Stellen zielen. „Da geht es um ganze Flächen, aber das wird ja bei dieser unglaublich manipulierten Nachrichtenlage gar nicht berichtet.“

Daß im Irak das große Sterben begonnen hat, darauf deuten auch Verlautbarungen der irakischen Opposition hin. Anfang der Woche berichtete der schiitische Ajatollah Mohammed Taki Mudarresi in Damaskus, allein in den ersten vier Kriegstagen seien etwa 100.000 Menschen getötet worden, darunter schätzungsweise 30.000 Zivilisten. Er bezog sich dabei auf Augenzeugenberichte von Flüchtlingen.

Die irakische Seite hat gestern den Vorwurf wiederholt, die multinationalen Luftstreitkräfte würden auch Wohnviertel bombardieren. Am Montag, so ein Militärkommuniqué, seien insgesamt 20 Angriffe auf Wohngebiete in Bagdad und anderen Städten geflogen worden. Das Oberkommando der antiirakischen Allianz dementierte dies.

Auch die Nachrichten über die irakische Hafenstadt Basra, wo Einheiten der „Republikanischen Garden“ stationiert sind, lassen Böses ahnen. Flüchtlinge erzählten von „einem sehr, sehr großen Angriff“ auf die Stadt und ihre Umgebung, der offenbar seit Samstag in mehreren dicht aufeinanderfolgenden Wellen im Gange ist. Die iranische Nachrichtenagentur 'Irna‘ berichtet, daß die Explosionswellen der Angriffe auf Basra am Montag und Dienstag so stark gewesen seien, daß noch Gebäude in der 40 Kilometer entfernten iranischen Stadt Chorramschar erschüttert wurden. Eher an blutverschmierte Skalpelle als an einen klinisch sauberen „surgical strike“ erinnern inoffizielle Berichte aus Kuwait, denen zufolge die Krankenhäuser des Emirats mit Verwundeten überfüllt sind. Thomas Worm/Hasso Suliak