Betrachten, ohne zu erklären

■ Filme von Johan van der Keuken in der Regenbogenfabrik und im Babylon Ost

Johan van der Keuken, der mittlerweile bekannteste holländische Dokumentarfilmer, hat seit 1960 ungefähr 40 Filme gedreht. In seinen ersten Filmen geht es um Blinde, Taube, Künstler. Seit Anfang der siebziger Jahre kümmert er sich um den Nord-Süd-Konflikt, Kapitalismus und den Fluß des Geldes, Ökologie. Er drehte einen Werbefilm gegen die Cruise Missiles, produzierte für das »Niederländische Palästina-Komitee«. Die meisten seiner Filme sind in Deutschland nur den Cineasten bekannt. Regenbogenfabrik und Babylon Ost zeigen ab heute Teile seines Werks. Eine Einführung

von Detlef Kuhlbrodt

Die künstlerische Photographie stellt die Zeit fest, sie bezeugt oder propagiert eine gefrorene Zeit, der man bestenfalls noch den Erstarrungsprozeß anmerkt, die Enttäuschung über die Erstarrung, die zurückschauende Melancholie, das distanzierte Genießen verlorener Zeit oder ihr Aufblitzen in der Innerlichkeit. Der Dokumentarfilmer Johan van der Keuken, 1938 in Amsterdam geboren, kommt von der Photographie. So weiß er vielleicht besser als andere um die Gefahr des selbstgenügsam ästhetischen und politischen Stillstands, die photographierten Filmen droht. Van der Keukens Filme sind musikalisch. Sie vereinen vielleicht das in sich, was man Ende der sechziger Jahre »progressive Musik« nannte; sie versuchen mit der Wirklichkeit, in der sie stehen, umzugehen, ohne ein geschlossenes Bild dieser Wirklichkeit zu vermitteln. Anfangssequenzen tauchen so zwar fast immer im Film wieder auf, doch nicht am Schluß, sondern einige Minuten vor dem Ende. Andere Szenen — die Totenköpfe einer amerikanischen Friedensdemonstration Anfang der siebziger Jahre zum Beispiel — wiederholen sich und erzeugen so eher einen Rhythmus als geschlossene Strukturen.

Die Musik hat nicht das Problem, mit der Wirklichkeit, in der sie steht, verwechselt zu werden. Auch der Dokumentarfilm, das weiß van der Keuken recht gut, zeigt nicht die Wirklichkeit. Er nimmt Anteil an ihr, er bezieht Stellung, doch die Kamera, die für die Opfer der Geschichte Partei ergreifen möchte, steht noch auf der Seite der Täter, gerade wenn sie sich als Kamera vergessen machen will.

Van der Keuken, der in seinen Filmen immer auch Kameramann ist, betont das Gemachte der filmischen Wirklichkeit, um die Wirklichkeit hinter den Bildern noch erfahrbar zu machen. Die Kamera bleibt nicht im unbeweglichen Ruhe- und Mittelpunkt herrschender Ästhetik, sie fällt aber auch nicht in die Betroffenheit signalisierende Ego- oder Eurozentrik vermeintlich chaotischer Bilder, die zum einen, wie bei Chris Marker, durch saubere Schnitte genußfähig gemacht werden, zum anderen das, was hinter der Kamera ist, dem beliebigen Austausch preisgeben.

Es dauert lange, bis der Zuschauer sich zurechtfindet in diesen Filmen. Neugierig folgt er minutenlang einem Fahrradfahrer, der eine Kiste transportiert, bis er erfährt, daß in dieser Kiste Filmrollen sind, die anderen Zuschauern in einem indischen Dorf vorgeführt werden. Ein Erzähler aus dem Off fehlt. So gleicht der Zuschauer dem Reisenden, der in ein fremdes Land fährt ohne Reisegruppe oder einen Bekannten, den er besuchen würde.

In I love Dollars sieht man ein Glücksspiel auf der Straße, sieht Einsätze, Gewinner, Verlierer; man sieht es, weiß aber nicht, wie es funktioniert. Keiner erklärt es einem. Nur, daß Geld fließt, daß die Gewinner und vor allem die Bank von den Verlierern profitieren. Hier draußen sieht man die Gewinner und Verlierer. Der Börsenmakler, der im nächsten Schnitt auftaucht und erzählt, daß gerade Rüstungsaktien gut gehen würden, kann die Verlierer zwar benennen, sieht sie nicht. Er sieht die Opfer auf dem Bildschirm und kann die Fernsehbilder nur in einen intellektuell-abstrakten, nicht in einen konkreten Zusammenhang mit seiner Tätigkeit bringen.

In I love Dollars, den die öffentlichen (Disziplinier-)Anstalten in einem lichten Moment einmal zeigten, geht es um die Zwangsmechanismen des Kapitalismus; um die Armenvorstädte New Yorks, deren Häuser die Besitzer, wenn das Verkommenlassen nicht hilft, niederbrennen, damit eine andere Klientel einzieht, um Kinder, die mit Drogen handeln, damit sie weiter zur Schule gehen können; um Drogen, die die natürlichen Bündnisse in den Armenvierteln sprengen, und 1986 — da war die Verschuldung der Vereinigten Staaten noch nicht so weit gediehen wie jetzt — um bekokste Börsianer, die, während Teile der USA zur Dritten Welt werden, auch noch vom Niedergang profitieren. »Filme können die Welt nicht verändern, sie können aber einige Mechanismen verdeutlichen, durch die sie zusammengehalten wird«, schreibt Andrea Niehuisen.

Die Mechanismen ähneln sich, ob es um die Börse geht oder ums Wattenmeer und seine Bewohner. Staatlich unterstützt verwandeln sich kleine Betriebe in Fabriken, die die Lebensbedingungen der Menschen zerstören. Ein interviewter Gewerkschaftler unterstützt das wider besseres Wissen. Van der Keuken erklärt nicht; er zeigt Gespräche, auch Landschaften, Maschinen, Arbeitsplätze. Bei den Bildern der Anti- AKW-Demonstranten denkt man daran, daß es eine Zeit gab, in der Gewalt gegen Sachen als Ausdruck von Ohnmacht oder Widerstand bei weiten Teilen der Bevölkerung und in den Medien noch nicht gleichgesetzt wurde mit der Staatsgewalt.

Van der Keuken mythologisiert nicht das Fremde zum ganz anderen, daß sich so fraglos gut in den Kulturbetrieb einpaßt; er beobachtet, ohne zu erklären. Die Arbeit hinduistischer Tänzer in Das Auge über dem Brunnen, seinem letzten und vielleicht poetischsten Film, wirkt so fast wie Widerstand; jahrelange Übungen, (so elegant) zu gehen wie ein Elefant oder den Wind durch sich hindurchwehen zu lassen, die künstlerischen Fertigkeiten der Tänzerinnen wirken wie renitente Reste in einer Welt, die in ihrer medialen und wirtschaftlichen Verfassung totalitär zu werden droht. Doch außerhalb des Klosters herrscht der Kapitalismus.

Die Kamera folgt einem Schuldeneintreiber. Einer, der Zigaretten dreht, um sie zu verkaufen, versucht nichts mehr zu essen, um seine Schulden zu zahlen. Er sagt: »Jetzt gibt es Zigaretten in Packungen. Das hat unserem Markt geschadet.«

»Ich bin dabei«, sagt der Filmer am Schluß, »und ich sehe es wie in einem Traum.« Am Anfang hatte er die Geschichte vom Mann, der von einem Tiger verfolgt wird, erzählt: Um sich zu retten, klettert er auf einen Baum. »Der Zweig, an dem er hängt, neigt sich gefährlich über einen ausgetrockneten Brunnen. Mäuse nagen an dem Zweig. Unter ihm, auf dem Boden des Brunnens, sieht er einen Haufen sich ringelnder Schlangen. Aus der Wand des Brunnens sprießt ein Grashalm, und auf der Spitze des Grashalms sitzt ein Tropfen Honig. Er leckt den Honig ab. Dies geschieht in einer geträumten Welt, die sich tausendmal wiederholt. Dies geschieht in der einzigen Welt, die wir haben.«

Regenbogenfabrik

24./25.1., 20.30 Uhr:

Herman Slobbe: Blindes Kind II (NL 1966), Ein Film für Lucebert (NL 1967), Der Zeit Geist (NL 1968);

26.1., 20.30 Uhr:

Bert Schierbeek: Die Tür (NL 1973), Das weiße Schloß (NL 1973);

27.1., 20.30 Uhr: Das Auge über dem Brunnen (Indien/NL 1988);

31.1./1.2., 20.30 Uhr: Der flache Dschungel (NL 1978);

2./3.2., 20.30 Uhr: I love Dollars (NL 1986).

Babylon Ost

24.1., 19.30: Der flache Dschungel

28.1., 19.30 Uhr: Das Auge über dem Brunnen

30.1., 19.30 Uhr: Die Maske (NL 1989).