Trübe Berliner Verhältnisse

■ Zur Vorstellung der großen Koalition in der Hauptstadt

Die These, daß mit der Größe der Aufgabe die Kräfte wachsen, beruht leider auf keinem Naturgesetz. Diesen mißlichen Tatbestand bestätigt die große Koalition in Berlin gleich am Anfang. Keine Regierung aus der Not der Stadt stellt sich vor, sondern eine regierende Notlösung, eine Notlösungsgemeinschaft. „Die von Mauer und Stacheldraht befreite Stadt steht vor einem Neuanfang“, heißt es in dem umfänglichen Koalitionspapier. Mit welchen neuen Gedanken aber neu angefangen werden soll, kann man dem Papier kaum entnehmen. Es ist ein Verschnitt von christdemokratischen Grundwerten mit rot-grüner Gensubstanz. Die SPD hat aus den Koalitionsverhandlungen nicht die Ressorts herausgehandelt, die ihr einen Raum zur politischen Gestaltung verschaffen. So wird sie sehr bald dazu übergehen, zwischen Krötenschlucken und Identitätssuche einen Weg der Selbstdarstellung zu suchen. Weder die Koalitionsvereinbarungen noch die neuen Senatoren selbst entsprechen der Rechtfertigung einer großen Koalition: nämlich die Forderung nach einer Allianz der politischen Kräfte angesichts der dramatischen Lage der Stadt.

Der Senat, der jetzt vorgestellt wurde, stabilisiert eine fatale Tendenz: Es ist nicht attraktiv, in Berlin Senator zu werden. Das Kabinett ist aus Leuten zusammengesetzt, die untergebracht werden mußten: aus Neulingen wg. Absagen und aus einer Kernmannschaft der Berliner Politik. Die beiden wichtigsten SPD-Politiker, Walter Momper und Ditmar Staffelt, sind aus parteitherapeutischen Gründen nicht vertreten. Die einzige Neubesetzung, die überzeugt, dürfte Radunski als Senator für Bundesangelegenheiten sein: Als Wahlkampfmanager Kohls verfügt er über ausgezeichnete Kontakte nach Bonn. Er ist gewissermaßen der Chef der Berlin-Lobby in Bonn. Und in den Koalitionsvereinbarungen dominiert die lobbyistische Logik. Alle Forderungen an die „nationale Verantwortung des Bundes“, von Berlin als Regierungssitz bis zur Olympiastadt, ergeben sich direkt aus den drohenden Defiziten. Die haushaltstechnische Grundlage des Koalitionskonsenses ist fiktiv. Es werden gleiche Lebensverhältnisse in West und Ost verlangt. Aber „hierfür ist der Standard in den westlichen Bezirken“ der Maßstab. Ein solches Programm ist nur dann ernst zu nehmen, wenn in voller Höhe subventioniert wird. Daß das unrealistisch ist, daß das öffentliche Defizit auch nicht mit der zehnprozentigen Ausgabensperre finanziert werden kann, wissen alle. Es gibt keinen Versuch, angesichts der tiefen wirtschaftlichen und kulturellen Spaltung und angesichts der zunehmenden Entfremdung zwischen West- und Ostberlinern eine Idee der Stadt zu entwickeln, die eine innere Versöhnung versprechen könnte. Keine Idee, nicht einmal der politische Mut ist sichtbar, eine politische Zukunft zu formulieren, die von der künftigen Realität, von der Realität des Defizits, von der Realität einer Stadt im Zentrum östlicher Armut ausgeht. Die Stunde der Wahrheit war nicht die Senatsbildung. Sie kommt noch, und zwar sehr schnell. Klaus Hartung