: Wan Dan vor Gericht
■ Der Führer der Demokratiebewegung wegen „Anstiftung zur konterrevolutionären Propaganda“ angeklagt PORTRÄT
Peking (taz) — Nur ein kleiner Zettel an der Termintafel des Pekinger Gerichtsgebäudes an der „Straße der Gerechtigkeit“ informiert die Öffentlichkeit: Seit Mittwoch läuft der Prozeß gegen Wan Dan, den historischen Führer der chinesischen Demokratiebewegung von 1989 und Nr. 1 auf der Proskriptionsliste des Regimes. Das Verfahren gegen Wan Dan bildet den Kulminationspunkt einer Prozeßserie, die — wie so vieles andere — im Windschatten der Golfkrise mit den Aktivisten der Demokratiebewegung abrechnet. Von einem Häuflein handverlesener „Bürger“ abgesehen, findet der Prozeß unter Ausschluß der Öffentlichkeit und unter sichtbarem Einsatz von Sicherheitskräften statt. Ausländischen Journalisten wurde bedeutet, der Prozeß ginge sie nichts an, da er ausländische Belange nicht tangiere. Die Anklage gegen Wan Dan, der bis zur Hauptverhandlung im berüchtigten Gefängnis für „Politische“ in Qincheng eingekerkert worden war, lautet auf Anstiftung zur konterrevolutionären Propaganda. Der schwammig formulierte Tatbestand sieht eine Normalstrafe von fünf Jahren vor, in schwerwiegenden Fällen ist das Strafmaß nach oben hin offen. Die ersten Prozesse hatten mit Strafen zwischen zwei und vier Jahren geendet, was, gemessen an den Befürchtungen, relativ milde war und den erwünschten Eindruck im Westen nicht verfehlte. Yuan Mu, Sprecher des chinesischen Staatsrats ( d. h. des kollektiven Staatsoberhaupts) hatte auch nicht versäumt zu erklären, man wolle „Großmut und Milde“ walten lassen, alles vollziehe sich nach Recht und Gesetz. Die chinesische Justiz weigert sich allerdings bis jetzt, eine vollständige Liste der Angeklagten und der ihnen zur Last gelegten Straftaten zu veröffentlichen. Wan Dan, jetzt 24 Jahre alt, war im Frühjahr 89 einer der Organisatoren des autonomen Studentenverbandes und auch dessen Vorsitzender. Der Weltöffentlichkeit wurde er als Teilnehmer des denkwürdigen Gesprächs der Studenten mit Ministerpräsident Li Peng bekannt, das — zur Wut der Machthaber — umgehend von den Studenten im Wortlaut veröffentlicht wurde und auch in die 'Peking Rundschau‘ Eingang fand. Wan Dan gehörte zu den intellektuellen Köpfen der Demokratiebewegung. Im März 89 analysierte er den demokratischen Umschwung in Osteuropa und befürwortete ähnliche grundlegende Reformen für China — auf friedlichem Wege und schrittweise. Nach dem Massaker des 4. Juni wurde er zur Zielscheibe der Medienkampagne gegen die „Konterrevolution“, im Bericht des Pekinger Bürgermeisters vom Juni 89 an den Ständigen Ausschuß figurierte er als einer der Führer des „Aufruhrs“. Aus allen zur Verfügung stehenden Quellen geht hervor, daß Wan niemals Gewalt befürwortet oder ausgeübt hat. Christian Semler
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