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Man wird uns verfluchen

■ Ein nur futuristisch scheinendes Buch

Während Zeit bei gewöhnlichem Unglück die Wunden heilt, wächst im Falle der Radioaktivität das Grauen mit den Jahren. Wer dachte, mit den unmittelbaren Folgen des Reaktorunfalls von Tschernobyl sei alles überstanden, sieht sich nun eines schlechteren belehrt. Und das wird so bleiben, zehn, hundert, tausend Jahre lang. Das Gras, das darüber wächst, ist schwer vergiftet. Wenn Radioaktivität freigesetzt ist, bleibt sie und verliert sich mit Halbwertzeiten, die die Zeit des Menschen weit überschreiten. Die Maßstäbe der bisherigen menschlichen Geschichte sind damit gesprengt. Wer sich damit beruhigt, muß von Sinnen sein.

Kurzlebige radiokative Abfälle verlieren ihre Gefährlichkeit binnen dreihundert Jahren, langlebige bleiben einige zehntausend Jahre schädlich. Das heißt, die künftigen Generationen werden noch sehr lange an uns denken, länger als uns lieb sein kann. Die Antike, um sich die Dimensionen zu vergegenwärtigen, liegt nun etwa zweitausend Jahre zurück. Mit vergleichbarer Zärtlichkeit, wie wir sie für die Antike hegen, wird uns die Zukunft nicht in Erinnerung behalten. Sie wird das 20.Jahrhundert verfluchen, das ihr nichts als Scherereien macht. Die radioaktiven Abfälle sollen zwar in Endlagern so entsorgt sein, daß für die künftigen Generationen keine Notwendigkeit mehr besteht, sich um sie zu kümmern. Aber was ist, wenn Probleme entstehen? Wie sind die Lagerstätten wiederzufinden? Oder umgekehrt: Wie ist zu verhindern, daß zufällig oder mutwillig in sie eingedrungen wird?

Das ist nicht der einzige Grund, warum sich die Frage stellt, wie über viele Generationen hinweg lebenswichtige Informationen weitergegeben werden können: Auch die Daten gentechnologischer Experimente müssen einer fernen Zukunft mitgeteilt werden können, die möglicherweise mit den einstmals erzeugten Lebewesen nicht mehr fertig werden wird. Raumschiffe werden bald auf die Reise zu fernen Sternen gehen und müssen — aufgrund der von der Relativitätstheorie vorausgesagten Zeitverschiebung — über unvorstellbar lange Zeiträume hinweg betreut werden: Wie soll dieses Wissen weitergegeben werden? Eine erste einschlägige semiotische Langzeitaufgabe wurde bei der Raumsonde „Voyager 2“ mit einer Platte aus Edelmetall gelöst, die einige Grundinformationen zur Gattung Mensch für andere kosmische Lebewesen mit sich trägt und jahrtausendelang der Korrosion im All widerstehen wird.

Fragen dieser Art stellte Roland Posner, Semiotiker (Zeichentheoretiker) an der Technischen Universität Berlin, einer Reihe von Fachleuten. Wie sollen verläßlich Botschaften weitergegeben und Institutionen von langer Dauer geschaffen werden, wenn wir aus der bisherigen Geschichte wissen, daß beispielsweise die Sprache sich alle paar hundert Jahre vollständig erneuert; daß Institutionen wie zum Beispiel staatliche Gebilde kaum mehr als ein paar hundert Jahre überdauern; daß selbst die bekanntesten Religionen nicht älter als ein paar tausend Jahre sind? Rationale Lösungen, wie sie vonnöten sind, müßten die dauerhafte Speicherung, ständig mögliche Aktualisierung und langfristige Verwaltung von atom-, gen- und raumfahrttechnischem Wissen vorsehen.

Muß also ein neuer Orden gegründet werden, der eine „Atompriesterschaft“ (kurz: Atomgurus) inaugurieren würde, die das Wissen und die Informationen über Endlagerstätten zu hüten und zuverlässig weiterzugeben hätte?

Der Amerikaner Thomas A. Sebeok denkt da an ein Gremium von Physikern, Medizinern, Anthropologen, Linguisten, Psychologen und Semiotikern — eine Elitegruppe, die sich selbst zu erneuern hat und bei der Weitergabe der Informationen über Endlagerstätten schrittweise verfährt, da sie die Nachrichten jeweils an drei nachfolgende Generationen richtet. Eine „absolut sichere Methode“ ist das freilich nicht.

Interessanter, um nicht zu sagen zynischer ist da der Vorschlag von Stanislaw Lem, dem es ja erwiesenermaßen zu keiner Zeit an fiktiven, aber doch realistischen Modellen mangelt. Er schlägt einen lebenden Informationsträger vor, der, gentechnologisch erzeugt, die Information nach dem DNA- Muster ständig reproduziert und so weitergibt, und zwar in den „harten“ Daten, das heißt in mathematischen, möglichst kontextfreien Codes.

Aber skeptisch ist auch er: Denn ein Zeichen ist immer Bestandteil einer Kultur, also eines Kontextes, und Kulturen haben erfahrungsgemäß die Angewohnheit, sich in einer unvorhersehbaren Richtung weiterzuentwickeln. Keine Chance also? Das Problem mag vielen als futuristisch erscheinen, aber es ist von drängender, eindringlicher Aktualität. Wilhelm Schmid

Roland Posner (Hrsg.): Warnungen an die ferne Zukunft. Atommüll als Kommunikaionsproblem, Raben-Verlag, 314 S., 28 DM.

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