Berlin: Grauer Fatalismus in Schwarz-Rot

Die große Koalition oder: Das Mißverhältnis zwischen Politik und Gesellschaft/ Die Spaltung der Stadt wird ignoriert  ■ Von Klaus Hartung

Punkt 4 in den „Richtlinien der Regierungspolitik“ der Berliner Koalitionsvereinbarung heißt: „Besinnung auf die eigene Kraft“. Da wird betont, die Stadt stehe vor einem „Neuanfang“. „Wir müssen die endlich wiedergewonnene Normalität als Chance begreifen.“ Ein selten tonloser, trübsinniger Satz. In ihm schimmert allzu deutlich die Tatsache, daß in dieser Stadt kaum jemand die neue Normalität als Chance betrachtet. Im Gegenteil: Über Berlin lastet zunehmend ein grauer Fatalismus. Die x-wöchigen Koalitionsverhandlungen und die auf hundert Seiten angeschwollenen Vereinbarungen haben dieses Gefühl eher noch verstärkt. Von der Öffentlichkeit wurden die Verhandlungen zunehmend mit einer Art bissigem Mißmut bekleidet, selbst von den Journalisten, die bei der Ablösung der rot- grünen Koalition aufgeatmet hatten.

Das schwarz-rote Kabinett, das gestern vom Abgeordnetenhaus gewählt wurde, hat alles andere als Jubel ausgelöst. Nicht nur, daß zu viele Herren im grauen Flanell, zuviel zweite Wahl hier einen „Neuanfang“ inszenieren sollen, verstimmt. Insbesondere die Entscheidung für einen Innensenator Heckelmann, als ehemaliger FU-Präsident qualifiziert durch Brutalo-Karrierismus sowie Vorliebe für Schmutzkampagnen und bekannt durch eine ausgewiesene Neigung, bedenkenlos Polizeigewalt gegen Dissens einzusetzen, alarmiert. Er wird jetzt schon in die Reihe der Rechtsstaatspolitiker vom Schlage eines Lummer und Kewenig eingereiht. Bedenkt man, daß die große Koalition sich nicht zuletzt mit dem Hinweis legitimiert hat, daß die existentielle Bedrohung der Ostberliner und die Radikalität des Gegensatzes zwischem dem Westen und dem Osten der Stadt innere Unruhen erwarten lassen, dann ist diese Personalentscheidung eine Provokation.

Der bisherige Innensenator, der Sozialdemokrat Pätzold, fühlte sich jedenfalls gezwungen, aus der Parteiraison auszubrechen, und hat sich auf dramatische Weise gegen die Koalitionsvereinbarung ausgesprochen. Studiert man das Koalitionspapier, dann fällt der Zusammenhang zwischen unverbindlichen Beschwörungen des „schnellstmöglichen“ Zusammenwachsens der Stadt und einer inneren Sicherheitsgarantie auf, die letztlich auf polizeiliche Mittel setzt. Trotz eines Sparhaushaltes werden zum Beispiel 20 Millionen für die Black Sheriffs ausgelobt — ein Sicherheitsdienst, der, aufgrund vermehrter Überfälle im Ostteil der Stadt, im wesentlichen auch dort zum Zuge kommen soll. Die Frage ist also, wieviel Realität, wieviel Bewußtsein der Realität schimmert in diesen Koalitionsvereinbarungen durch. Nun neigt die Politik selten dazu, ein realistisches Bild zu vermitteln, wenn die Wirklichkeit deprimierend ist. Dennoch: in einer historischen Situation, in der Berlin von Ängsten und entsprechend von einer großen Bereitschaft zur Leugnung der Realität beherrscht wird, sollte zumindest der Versuch zum Klartext und zur Klarsicht unternommen werden. In dem zitierten Punkt 4 wird die „eigene Kraft“ beschworen. Sie „gilt es zu entwickeln“. Aber wie? Der Text antwortet: indem „der Bund und die westdeutschen Länder ihre nationale Verantwortung gegenüber Berlin wahrnehmen“, kurz: indem sie löhnen. Eine lobbyistische Position, bei der zu fragen ist, ob sie den notwendigen Lobbyismus in Bonn stärkt. Daß eine solche Position nicht geeignet ist, die Besinnung auf die „eigene Kraft“ zu mobilisieren, scheint ohnehin evident.

Alle finanzpolitischen Vorgaben in der Koalitionsvereinbarung stehen unter dem „generellen Vorbehalt ihrer Finanzierbarkeit“. Es wird die allgemeine Überprüfung aller öffentlichen Ausgaben postuliert, aber in schwammigen Formulierungen wie: „kritische Überprüfung aller öffentlichen Ausgaben im Hinblick darauf, ob sie in der neuen Situation noch notwendig sind“; oder: „Aktivierung aller Möglichkeiten der Einnahmepolitik, soweit dies sozial verträglich ist.“ Daß — selbst bei zunächst fortlaufender Berlinsubvention und den nicht bewilligten sechs Milliarden DM für Ost-Berlin — der Haushalt, gemessen an den Aufgaben, defizitär bleiben wird, weiß jeder. Leitlinien und Prioritäten für einen Sparhaushalt wären zwingend erforderlich. Aber das ganze finanzpolitische Problem ist auf den Haushalt 1992 vertagt, der „umgehend“ vorgelegt werden soll. Eine Als-ob- Finanzpolitik also.

Nach dem Wahlergebnis fragt sich jedoch mit großer Dringlichkeit, mit welchem Bewußtsein regiert werden soll. Von seiten der Westberliner war es eine Angstwahl, eine Wahl gegen die drohende Verostung der Stadt, gegen die schon erfahrbare Realität einer Metropole des Ostens. Die Koalitionsvereinbarung nährt diese Angst, gerade indem sie kurzerhand die Befürchtung wegschreibt, daß sich durch die Vereinigung auch die Westberliner Lebensverhältnisse ändern werden. Postuliert wird, der „Maßstab“ für die „gleichen Lebens- und Arbeitsbedingungen“ sei der „Standard in den westlichen Bezirken“ der Stadt. Das ist jetzt schon eine Lüge. Jetzt schon stehen die Stadträte vor der Alternative, ob sie KITA-Stellen streichen oder die Stadtbäder schließen.

Immerhin wird unter der Rubrik „Verwaltungsreform“ zugegeben, daß sich auch für West-Berlin etwas ändern wird: „angesichts der engen Haushaltssituation muß geprüft werden, wie das System finanzieller und stellenplanmäßiger Globalverantwortung weiter ausgebaut werden kann.“ Vollkommen richtig. Aber in diesem Punkt sollte man politische Vorgaben erwarten. Wie realisiert die Koalition die Spaltung der Stadt, die sich nach der Aufhebung der Teilung eher noch verschärft hat. Nicht nur Massenarbeitslosigkeit, Wohnungsnot und Unsicherheit beherrscht die östlichen Stadtteile. Es dominieren eben auch die Westberliner. Die Vergangenheit wird im Schnellverfahren überprüft, Institutionen werden „abgewickelt“.

Darüber hinaus findet bei allen öffentlich Angestellten das statt, was im Jargon die „Westbestrahlung“ durch die „Besserwessies“ heißt. Die Leute im Osten werden nicht nur zur Rede gestellt, sie werden auch gedemütigt. Zumindest subjektiv verbreitet sich das Opferbewußtsein im Osten wie ein Flächenbrand. Dabei ist klar: von der Art wie die Spaltung der Stadt behandelt wird, hängt die innere Demokratie in Berlin ab. Neben den zentralen Stellen zur Überprüfung der Stasi-Vergangenheit wäre dringend erforderlich, daß es so etwas gäbe wie einen Ombudsmann für die Ostberliner oder eine Schiedsstelle für Abwicklungsgeschädigte. Derlei ist nicht zu erwarten. Diese große Koalition ist eine Koalition gegen den Osten der Stadt, mit drei Alibi-Ostlern im Amt.

Keine Frage, daß die radikalen Widersprüche dieser abrupt zusammengewucherten Stadt die Politik überfordern. Eine kluge Politik müßte das wissen. Der Bevölkerung müßte die Stadtrealität vor Augen gehalten werden. Reicht der Wunsch nach dem Regierungssitz und der Olympiastadt, zumal wenn diese Perspektive als einzige Chance vorgestellt wird, das drohende Defizit der Stadt zu finanzieren, um die „eigenen Kräfte“ zu mobilisieren? Kaum. Es müßte sich immerhin ein Bild der Stadt, in der man mit Freude leben könnte, abzeichnen, eine Idee der Liebe zur Stadt. Was vermittelt uns da der hochgelobte Senator für Stadtentwicklung, Volker Hassemer, als Vision? — Wegen der Gefahr der Zersiedlung solle die Innenstadt „verdichtet“ werden. Gewiß. Aber wie sieht die verdichtete Innenstadt aus? Wer verdichtet da? Die Spekulanten? Immerhin gab es die Debatte um die Bebauung des Potsdamer Platzes durch Mercedes- Benz, der einzige Streit, der die Regeln innerstädtischen Bauens thematisierte. Für die Koalition uninteressant. In dem Stadtentwicklungsteil wird zwar die bekannte „Kreuzberger Mischung“, der Zusammenhang von Wohnen, Freizeit und Arbeiten in einem Stadtteil zur „Berliner Mischung“ erhoben. Aber geht das? Braucht nicht die Innenstadt eine neue Vision? Die realexistierende Innenstadt ist gegenwärtig ein deprimierendes mixtum compositum aus historischem Zentrum, aus den Aufmarschräumen des Sozialismus und den monströsen Fragmenten der Hauptstadt der DDR. Nach dem zukünftigen Zentrum wird nicht einmal gefragt. Keine Vorstellung, kein Bild der künftigen Stadt, nur das Wegreden der „wiedergewonnenen Normalität“.