„Fall Lotze hat Pilotfunktion“

■ Bundesanwalt Pfaff als Zeuge der Verteidigung im Prozeß gegen RAF-Aussteiger Lotze/ Bei Kronzeugenregelung „großzügig verfahren“/ „Selbstbindung“ der Bundesanwaltschaft

München (taz) — Erstmals in der Geschichte der juristischen Auseinandersetzung mit der RAF erschien gestern ein Bundesanwalt vom Bundesgerichtshof Karlsruhe als Zeuge der Verteidigung vor Gericht. Im Prozeß gegen den Aussteiger Werner Lotze vor dem Bayerischen Obersten Landesgericht plädierte Bundesanwalt Wolfgang Pfaff am Mittwoch für die Anwendung der umstrittenen Kronzeugenregelung.

Der im Juni 1990 in der früheren DDR festgenommene 38jährige Lotze hat mit seinen Aussagen einige seiner ehemaligen Kampfgefährten schwer belastet. Gleichzeitig gestand er selbst schwerste Straftaten, die ihm bis zu seiner Festnahme in der DDR nicht zur Last gelegt worden waren — unter anderem den möglicherweise tödlichen Schuß auf einen Polizisten (1978) und seine maßgebliche Beteiligung am Attentat auf den früheren Nato-Oberbefehlshaber in Europa, Alexander Haig (1979). Zum Beweis, daß Lotze seine umfassenden Aussagen auch ohne die Aussicht auf Strafmilderung durch die Kronzeugenregelung gemacht hätte, holte Verteidiger Dieter Hoffmann den Bundesanwalt vor Gericht. Dieser betonte zu Beginn seiner Zeugenaussage, die Bundesanwaltschaft werde bei der Prüfung, ob die Kronzeugenregelung angewandt werden könne, „großzügig verfahren“. Grund: Die Aussagen Lotzes seien „von außerordentlich großem Wert zur Bekämpfung des Terrorismus“. Im Rahmen der strategischen Auseinandersetzung mit der RAF spielten Geständnisse dieser Art eine wichtige Rolle. Dadurch würden Diskussionen in Gang kommen, die zu einer Destabilisierung der Organisation führen könnten.

Nicht ausschließen mochte Pfaff jedoch, daß seine Äußerungen gegenüber Lotze im vergangenen Sommer dessen „Aussagebereitschaft beflügelt“ hätten. Andererseits betonte der Bundesanwalt, daß Lotze ihn damals bei seiner ersten eineinhalbstündigen Vernehmung sofort unterbrochen habe, als er ihm die Kronzeugenregelung erklären wollte. Lotze habe sofort betont, er wolle in erster Linie seine Vergangenheit bewältigen. Vor allem auch, um seiner heute achtjährigen Tochter ohne schlechtes Gewissen in die Augen sehen zu können. Immer wieder sei Lotze bei diesem Gespräch von Weinkrämpfen geschüttelt worden, erzählte Pfaff. Der Bundesanwalt wies nochmals darauf hin, daß Lotze in diesem Gespräch den Anschlag auf Haig, den Polizistenmord in Dortmund und einen weiteren Banküberfall in Darmstadt „offenbarte“. Gleichzeitig versicherte er dem bayerischen Gericht, dem Beschuldigten seien bezüglich der Höhe der Strafe keinerlei Versprechungen gemacht worden. Andererseits sprach Pfaff von einer „Selbstbindung“ der Bundesanwaltschaft, wonach aus der „Kann-Vorschrift“ bei der Kronzeugenregelung in Fall Lotze eine „Soll- Vorschrift“ werden solle. Der Fall Lotze habe „Pilotfunktion“.

„Unser Wissen über die RAF ist heute weitreichender als zuvor“, stellte der Bundesanwalt fest. Bundesanwalt Pfaff zitierte außerdem ein „Protokoll“ aus dem bayerischen Landeskriminalamt (LKA), wonach das Aussageverhalten Lotzes den „Mythos der RAF als Avantgarde im Kampf gegen das kapitalistische Schweinsystem zerstört“ habe. Er verwies darauf, daß es bereits Personen aus der „Randszene“ gäbe, die ihre Tätigkeit eingestellt hätten. Des weiteren prüfe eine in terroristischen Kreisen bekannte Person gerade ihren Ausstieg. Den Namen wollte Pfaff nicht nennen. Unter Ausschluß der Öffentlichkeit machte Pfaff dann noch weitere Aussagen. Die Staatsanwälte und Verteidiger halten heute ihre Plädoyers. Luitgard Koch