Anti-Kriegsdebatten im Klassenzimmer

Auch eine Woche nach Kriegsbeginn beherrscht der Krieg am Golf den Schulablauf in der Erich-Kästner- Gesamtschule in Bochum/ Rege, keinesfalls einseitige Debatten/ Vereinnahmungsversuche von außen chancenlos  ■ Aus Bochum Walter Jakobs

Sven Schulz ist 14 Jahre. Am Dienstag morgen steht er mit einem selbstgemalten Plakat — „Deutsche Waffen Deutsches Geld, mordet mit in aller Welt“ — in einem Seitenflügel der Erich-Kästner-Gesamtschule in Bochum. Warum er gerade diese Parole gewählt hat? „Das entspricht doch der Wahrheit, oder?“ Um Sven Schulz herum stehen Dutzende SchülerInnen mit Plakaten und Transparenten; frisch gemalt, um sie wenig später an eine zentrale Fußgängerbrücke zu hängen. Statt Demonstrationen in der Innenstadt steht heute die Aktion direkt vor der Haustür auf dem Programm. Svens Eltern fanden, daß „ein bißchen zuviel“ demonstriert wurde, „aber ich finde das nicht. Was soll man anderes machen? Etwa zu Hause sitzen und am Fernsehen zuschauen?“

Schon am vergangenen Mittwoch, 14 Stunden vor Kriegsbeginn, „hatten viele Kids Panik. Mit unglaublichem Enthusiasmus ging das hier los“, sagt Moritz Meyer (19), Schülersprecher an der Gesamtschule. Zunächst war nichts organisiert. Das spontane Engagement kam auch für die Schülervertretung, der Oliver Glocken (19) und Katja Lang (20) angehören, völlig überraschend. Oliver: „Die Schülerinnen und Schüler waren einfach nicht mehr willig, den normalen Unterricht zu machen.“ Spontan zogen sie in die Stadt, animierten dabei die SchülerInnen der am Wege liegenden Schulen, sich ihnen anzuschließen. Inzwischen ist dieser unmittelbare Elan der ersten Tage zwar abgeflaut, aber, so glaubt Katja Lang, „die Aktionen werden weiter gehen. Informationsveranstaltungen, Filmvorführungen, Zeitungen, all das kann man bis zum Kriegsende weitermachen“. Die Schulleitung toleriert, daß normaler Unterricht in dieser Woche eher selten stattfindet. Das Durchbrechen des Schulalltags hält Rektor Wolfgang Richter auch pädagogisch für gut. Die „häufig so blutleere Schule“ müsse die Kinder bei ihrem Interesse abholen. „Wenn die Kinder das Bedürfnis haben, über den Golfkrieg zu reden, wird das gemacht, und ich finde es richtig.“ Der Rektor sieht seine Aufgabe darin, die Vorschläge der SchülerInnen „organisatorisch passend zu machen“. Er will alles vermeiden, „was nach Zensur riecht, denn das, was hier gemacht wird, sind ehrliche Aktionen, die verdienen keine Zensur“.

Dragan, Carlos und Antonio sind Schüler der siebten Klasse. Am Mittwoch morgen steht eigentlich Englisch auf dem Stundenplan, doch daran ist heute nicht zu denken. Die drei Jungen sind in den letzten Tagen mit weiteren Schülerinnen „durch die Häuser und die Schule gezogen und haben Meinungen gegen den Krieg gesammelt“. Sie werden vorgelesen und diskutiert, mit Billigung der Englisch-Lehrerin Barbara Sendler-Brandt. Die Kinder wollen das Heft mit den eingefangenen Stimmen an die Botschaften der USA und des Irak schicken. Ein Florian hat in das Buch geschrieben: „Ich hasse den Krieg, weil soviel Menschen sterben. Ich glaube Saddam Hussein ist schuld“. Ein anderer hält Hussein für „krank“, bezeichnet ihn „als ein Problem, das beseitigt werden muß“. Dagegen hält die Marokkanerin Jasmin, das könne man auf gar keinen Fall an die irakische Botschaft schreiben: „Man soll nur etwas gegen den Krieg in das Heft schreiben.“ Widerspruch von Romina: „Der Hussein ist ein Arsch. Man hat ihm lange genug Zeit gegeben, aus Kuweit zu verschwinden.“ Am Ende einigen sich die aus vielen europäischen und arabischen Staaten stammenden 13-14jährigen Kinder der 7. Klasse, drei Hefte zu verschicken: Eins ohne persönliche Angriffe auf Hussein an die irakische Botschaft. Ein anderes an die amerikanische Vertretung und ein weiteres ans Bonner Kanzleramt. Einig sind sich die verschiedenen Nationalitäten in dieser Klasse, daß der Krieg „einfach Mist ist“, und die Parole einer Schülerin, „Oh Herr, laß Hirn vom Himmel fallen“, findet ungeteilte Zustimmung. Die Kriegsgründe sind jedoch heiß umstritten. Während der Libanese Naja findet, daß die Amerikaner zu verschwinden hätten, denn der Konflikt „ist Arabersache“, glaubt die Deutsche Romina, „daß man ja wohl Krieg machen mußte“. „Bush hatte Angst, daß Hussein das Öl nimmt. Der Hauptgrund ist das Öl“, sagt dagegen die Marokkanerin. Melanie springt ihr bei: „Glaubt ihr denn, daß die Amerikaner Kuweit geholfen hätten, wenn es dort nur Apfelsinen und Erbsen gäbe?“ Melanie und die meisten MitschülerInnen glauben das nicht. „Man hätte länger verhandeln müssen“, meint der Spanier Carlos. Eine Position, die auch die Lehrerin Sendler-Brandt teilt. Eine ernsthafter Boykott sei nicht versucht worden. Jetzt gehe es um den „sofortigen Waffenstillstand“. Der Krieg sei „Wahnsinn“.

Wer diesen SchülerInnen Einseitigkeit, blinden Antiamerikanismus oder ideologische Verblendung vorwirft, der muß Ohren und Augen fest geschlossen halten. Tatsächlich halten sich die SchülerInnen hart an die Fakten, ganz gleich, ob sie den Amerikanern und ihren Bonner Lautsprechern gefallen oder nicht. Zu nützlichen Idioten des Diktators Hussein lassen sie sich gleichwohl nicht machen. Es geht darum, so Katja Lang, „daß die friedlichen Mittel nicht ausgeschöpft wurden“. Sicher hätte man auch schon massiver bei der Besetzung Kuweits demonstrieren müssen, aber diejenigen, die „uns das jetzt vorwerfen, waren bei der amerikanischen Invasion in Grenada doch vollkommen still“, sagt Moritz Meyer. Sein Schulleiter findet, daß die SchülerInnen — anders als vor 10 Jahren — „heut nicht mehr so anfällig sind für die kurze These“, daß sie „auch ein Ohr für die Gegenargumente haben“. Er hat recht. Am Mittwoch protestierten Schüler und Lehrer in einem Brief an den Bürgermeister von Tel Aviv gegen die irakischen Raketenangriffe. Sofern dies gewünscht werde, „sind wir bereit, Kinder aus Israel für die Dauer des Krieges bei uns aufzunehmen“.