Die Bilder müssen auf den Tisch

■ Kann eine Fernseh-Leichenschau uns die Wahrheit über den Krieg erzählen?

Eine große Irritation in diesem Krieg ruft das Fehlen der Bilder hervor — und zwar solche, die nicht die Segnungen der Waffentechnik preisen, sondern die Fratze des Krieges zeigen, den Tod in den Städten. Dieser Mangel an Kriegsbildern und die kalte Video-Ästhetik der Fadenkreuzkameras haben uns aufgeschreckt und nachhaltig verstört.

Und plötzlich sind sie alle wieder da, die Zweifel an der Wirklichkeitsnähe des Fernsehens. Worte fallen, die längst in den Schubladen der doch scheinbar so weltfremden Kulturpessimisten verschwunden schienen. Die Bilder vom Golf — so betonen es inzwischen auch die Fernsehjournalisten wieder und wieder — können nicht einmal eine ungefähre Einschätzung der Lage vermitteln. Sie verhindern jede Möglichkeit der Erfahrung und geben niemandem die Fähigkeit zu einer Stellungnahme. Propaganda und Spekulation haben Konjunktur. Mißtrauen gegenüber jedem Bericht aus der Region gehört wie selbstverständlich zur Rezeptionsgewohnheit des Fernsehzuschauers. Verkehrte Welt: Der eregierte Zeigefinger der Fernsehmoderatoren auf die Unvollständigkeit der gesendeten Informationen hat etwas Heuchlerisches an sich. Das Medium warnt vor sich selbst und suggeriert damit, daß es ansonsten immer um die volle Wahrheit geht. Vielleicht lehrt uns die Golf- Berichterstattung, wieder kritischer mit dem „Fenster zur Welt“ umzugehen.

Doch offen bleibt, ob die fehlenden Bilder des Leids, falls sie jemals nachgereicht werden sollten, die Möglichkeit wirklicher Erkenntnis beinhalten. Noch hat es kein Fernsehmoderator explizit gefordert, aber bei den Anmoderationen, die seit zwei Tagen pflichtbewußt auf den spekulativen Charakter der Nachrichten und auf die militärische Zensur aufmerksam machen, schwingt mit, daß die Militärs endlich auch die Filmaufnahmen oder Fotos der Opfer und der Schäden freigeben sollten. Ich frage mich, ob ich diese Bilder wirklich sehen will, denn die aufgedunsenen Leichen, die verbrannten Kinderleiber sind von anderen Kriegen nur all zu bekannt. Aber, es scheint so, als könnten nur die Bilder von den Schrecken des Krieges aufklärerisch wirken. Und da beginnt eine Schizophrenie, die spätestens seit dem Vietnamkrieg die Medien beherrscht. Nicht die Vorstellung und das Wissen über die vernichtende Wirkung der Waffen, sondern die im Vietnamkrieg erst nach Jahren des Krieges auftauchenden Bilder haben die Menschen berüht und zu Protesten bewegt. Die Perversion besteht darin, daß anscheinend nur grauenerregende Bilder Empörung auszulösen vermögen und zwar solche, vor denen Pädagogen in einem anderen Zusammenhang nur allzu gerne warnen, weil sie gewalttätig und brutal sind. Und wahrscheinlich hätte sich mancher, wären die schrecklichen Auswirkungen der amerikanischen Angriffe — womöglich von CNN live übertragen — sofort zu sehen gewesen, darüber aufgeregt: über eine sensationslüsterne Darstellung, über die Faszination der Gewalt oder über die morbide Lust an einer Leichenschau. Eine gewisse Neugier an einer derartigen Verbildlichung der grausamen Wirklichkeit menschlichen Leids kann wohl niemand verleugnen: Die Schlangen der Zuschauer bei Autounfällen oder die Schaulustigen während des Gladbecker Geiseldramas bestätigen diese Vermutung.

Eine schwer zu erklärende Anziehungskraft scheint von solchen Bildern auszugehen, gleichzeitig durchsetzt mit Abscheu und Ekel und gepaart mit der Erleichterung, nicht selbst betroffen zu sein. Und nun sieht es so aus, daß derartige Bildwelten, mit denen man doch meistens nicht seine eigene Faszination, sondern irgendeine perfide Geilheit tumber Horrorvideo-Konsumenten in Verbindung bringt, die Rettung bringen — in dem Sinne, daß sie uns Wahrheit schenken. Sind die Menschen durch die Medien bereits so pervertiert, daß sie diese Bilder sehen müssen, um mitfühlen zu können? Eine Antwort darauf ist mir unmöglich, aber für dieMedien gibt es nur eine Konsequenz: Die Bilder müssen auf den Tisch. Schon vor dreißig Jahren hat der Philosoph Günther Anders konstatiert, daß wir „von Bildern umstellt“, ja regelrecht einem Bauernregen von Bildern ausgesetzt sind — das Bild als „Hauptkategorie und Hauptverhängnis“ des menschlichen Daseins. Das Paradoxe daran ist, daß uns diese Bilderwand den Blick auf die Welt verstellen kann, gleichzeitig aber auch eine Facette von ihr abbildet. Das gilt es in Kauf zu nehmen, auch wenn einige sich an dem Anblick des Todes wie an einem Horrorvideo ergötzen mögen.

Es komme jedoch niemand daher und spreche von der Verrohung des Mediums. Kritik am Fernsehen ist das eine, Kritik um der Kritik willen aber führt zu nichts, außer zu mehr Rechthaberei, die hier fehl geht. Vielleicht sollten wir unsere Unsicherheit im Umgang mit einem Medium, das wir alle zu beherrschen und zu begreifen glaubten, ausdrücken und nicht eine Gewißheit, die sofort alles erklärt und festzementiert zu einer einzigen Wahrheit, die es in diesem Krieg nicht geben kann. Christof Boy