VON FEEN UND ELFEN

■ Viertausendeinhundert Kilometer oder zweiundsiebzig Stunden mit der Bahn durch China

Viertausendeinhundertfünf Kilometer oder zweiundsiebzig Stunden

mit der Bahn durch China

VONJENSDÜCKER

Es gibt einen Zug — täglich — von Korla nach Xi'an. Wenn man will und die Tonsoldaten einen lassen, sogar mit Anschluß nach Peking. Bis dahin sind es 4.101 Eisenbahnkilometer. Vom Pekinger Bahnhof bis zum Tiananmen-Tor der Verbotenen Stadt sind es drei Kilometer, bis zur Halle der Höchsten Harmonie nochmals einer. Insgesamt also viertausendeinhundertfünf Kilometer. Die Fahrt von Korla nach Xi'an dauert zweiundsiebzig Stunden, nach Peking noch mal zweiundzwanzig. Es gibt nur Hardseater-Tickets für Normalsterbliche. Alle Leute, die auf unzähligen Stationen zwischendurch zusteigen, haben Stehplätze. Unmarkierte, willkürlich unreservierte Stehplätze, die gelegentlich in Schoßhocker umgetauscht werden. Zweiundsiebzig Stunden Existenzberechtigung auf einem viertel Quadratmeter.

Die Empirie sagt, daß bereits nach 38 Stunden ohne Schlaf in einem völlig überfüllten Zug galoppierender Realitätsverlust einsetzt. Ob ich dann die Augen offenhalte oder geschlossen lasse, ob ich vor mich hin döse oder angestrengt die sogenannte Landschaft beobachte — nie kann ich ihnen entfliehen. Halte ich die Augen offen, so steigen sie aus der Landschaft hervor. Irgend jemand sitzt plötzlich in einer Dattelpalme oder rutscht zwischen den Bergen ein Schneefeld hinab. Sie tauchen nicht nur auf, diese Gestalten, sie springen mir ins Auge hinein. Sie sind einfach da, wie irgendwelche Zwerge und Elfen auf den Sonntagnachmittagsspaziergängen älterer Anthroposophen einfach da sind. Und hab' ich meine Zwerge — meistens Feen — erst einmal gesehen, so ist es zu spät. Der Zug kann so schnell fahren, wie er nur vermag, alle Landschaft bis zur Verzerrung an mir vorüberrasen, ich werde sie nicht mehr los. Ohne sichtliche Anstrengung halten sie mit jedem Zug mit und ziehen sich in Großaufnahme an mein Auge heran. Halte ich die Augen geschlossen, wird das Zugrattern irgendwann zur Stimme. Jede Taktabweichung wird Gestalt, Person, Erinnerung, deren visuelles Bild mir dann die Augen zwar aufreißt, aber — zu spät, es ist immer zu spät — nur, damit die Gestalt dann direkt am Fenster hängt. Meistens verkehrt herum, sich vom Dach herablassend. Gleich wird sie abrutschen und fallen. An meinem Fenster vor meinen Augen vorbeifallen zwischen irgendwelche Gleise, wo niemand — auch kein Streckenwärter — sie je finden wird. Aber ich weiß sie dort zwischen den Gleisen, ich habe sie dort hingebracht. Sie oder ihn. Die Schienen der Welt sind voll von meinen Leichen.

Es hilft nur noch eines: weiterfahren. Denn über kurz oder lang vermag sich der Geist nur noch zu den Höhen aufzuschwingen, die ihn alles, was passiert, als einen ruhig dahinplätschernden Vorfilm betrachten lassen in der Gewißheit, daß der Hauptstreifen — wenn er denn kommt — auch nichts mit einem zu tun hat. Ich stürze mich also in das Gedrängel und Gequetsche des großen Spucknapfes Bahnhof, eine Fahrkarte zu ergattern. Das ist noch interessant. Gerempel ist nicht zu vermeiden, aber gedankliche Unversehrtheit. Irgendwann kommt der Tag der Abfahrt. In geordneten Reihen geht es auf den Bahnsteig. Ich brauche nicht zu eilen, der Sitzplatz ist reserviert, das Gepäck leicht unterzubringen, und es ist die erste Station des Zuges. Begrüßung auf chinesisch durch die Zuglautsprecher. Ich kann mir noch den Blick aus dem Fenster leisten.

Ein Ochse vorm Pflug trottet gemächlich seine Furche. Eine Furche zwischen Maisfeldern. Überall Mais, wo nicht die Berge nur nackten Fels zeigen. Die chinesischen Kulenkampffs werden seit einer Stunde durch alle Lautsprecher gelassen. Tatsächlich hier und da ein Lacher. Das Programm wechselt nach einer Weile. Jetzt ein unerreichter Klirrfaktor über westlicher Musik als Unterlage für Schienengeratter. Warten vor dem Klo. Eine Schlange anderer Leute rüttelt abwechselnd an der Tür. Alle sechs kommen vor mir dran. Hier ist fast nur noch das Schlagen der Räder auf die Schienennähte zu hören. Endlich frei, die drei Frauen in der Tür grinsen aus dem Gestank, der mir entgegenkommt. Zurück auf dem Sitz, übertönt wieder das Musikähnliche das Stimmengewirr von hundertachtzehn Leuten, die in meinem Wagon einen Sitzplatz haben. Die Stehenden zähle ich nicht. Einige bringen es fertig zu schlafen. Die Ventilatoren sind aus. Die Musik wechselt von sinisierter Westmusik zu verwestlichter chinesischer. Eine Durchsage: Im Speisewagen kann man sich jetzt das Essen in Styroporschachteln holen, falls man nicht warten mag, bis der kleine Wagen kommt. Musik. Gelächter im Hintergrund der Bandaufnahme. Jemand pfeift zur Lautsprechervorgabe. Das neue Stück bricht nach einer Minute siebenunddreißig Sekunden durch Stimmengewirr ab. Eine Durchsage beginnt wie üblich mit einem Klang wie „bi kumen“, dazwischen die Worte „goldika“ und „wu djiao“, die ich ob der ständigen Wiederholungen herauszuhören meine. Eine Minute sechsundfünfzig Sekunden. Stimmengewirr, leiser werdend, abgelöst vom Trommeln auf die Tischplatte ungefähr zwei Bankreihen weiter. Drei Takte. Es fängt schon an. Wie beim Autofahren sehe ich die Zerrbilder völlig übermüdeter Nerven. Damit beginnt es immer. Jetzt brauche ich nur noch zu warten, bis es richtig losgeht. Obwohl ich nicht am Steuer sitze, darf ich nicht einschlafen. Es geht nicht. Warum träume ich nicht bei dieser surrealistischen Atmosphäre? Kein Klartraum wird jemals das Unwirklichkeitsprofil dieses Zuges erreichen. Ich brauche nur den Schlag abzuwehren, und schon habe ich die Visionen, die ich brauche, um zu wissen, was ich nicht zu wissen brauche.

„Bi kumen...“ Der Dialog zwischen den einheimischen Mitreisenden beruht auf einem Spiel, das nach meinen vielen Zugfahrten dauernden Studien etwa so funktionieren muß wie Kishons Jüdisches Poker. Liu und Ba zum Beispiel sind die Zahlen Sechs und Acht. Die Mitspieler schmeißen nun solange mit immer höheren Zahlen und den dazugehörigen Handzeichen um sich, bis — so vermute ich — ihnen entweder keine Zahl mehr einfällt oder sie das entsprechende Handzeichen nicht mehr wissen.

Das alles war erst die Mitte des zweiten Tages. Die zweite Nacht warte ich vergeblich aufs Einschlafen. Auch in der Dösphase wird es jetzt schwierig. Vereinzelt unterhalten sich die Chinesen schon auf deutsch. Es sind aber sehr belanglose Gespräche, über Bier und Bockwurst etwa und über Bürgermeister Feininger, der immer noch — nunmehr schon seit zwanzig Jahren — im Keller gefangengehalten wird, bei abgepacktem Kuchen für zwei Mark fünfundneunzig und Dosenbier.

Am dritten Tag komme ich dann nicht umhin, mein spärliches Chinesisch zusammenzukratzen und mir einen Gesprächspartner zu suchen. Das sorgt zwar für großes Hallo unter den kontaktfreudigen Chinesen, übersteigt aber auf Dauer die Reste meiner geistigen Klarheit. Ich vergaß übrigens zu erwähnen, daß ich nicht allein unterwegs bin. Aber Thomas hat sich der Sitte gemäß einfach auf den siffigen Boden gelegt, halb auf den Gang, halb unter die Sitzbank, und schläft bereits seit zwölf Stunden so tief, daß er die vielen Leute, die notwendigerweise auf ihm herumtrampeln, nicht mehr spürt. Lars, der Zweimetermann, hat sich bereits in der ersten Nacht auf seinem Stückchen Sitzbank zusammengefaltet, und bis zum Ende der Fahrt wird er keinerlei Lebenszeichen mehr von sich geben. So bin ich denn auch das einzige Opfer meiner freundlichen chinesischen Mitreisenden, die sich natürlich mit viel Hausrat und noch mehr Proviant eingedeckt haben. Der Wassermelonen sind so viele, daß ich als volles Familienmitglied versorgt werde, und das geschieht mit großem Nachdruck. „Nein, danke“ wird nicht akzeptiert. Ich muß essen, immer wieder, so viel, daß ich am Ende mindestens drei Wassermelonen mittlerer Größe allein aufgegessen habe.

Die dritte Nacht ist am schlimmsten. Wie nach einer Woche Sahara geht man im Kreis durch flirrende Luft. Die Ventilatoren sind auch jetzt noch nicht an, wir fahren durch die Wüste Gobi.

Die Leute außerhalb des Wagens am Fenster haben leichtes Spiel. Ein blauer Farbklecks, der ein kleines Wägelchen schiebt, hält mir irgend etwas normalerweise Eßbares unter die Nase.

Alles Fata und Morgana, und nie wieder Wassermelone.