Medizinische Hilfe: Instrument des Krieges?

■ Zu Geschichte und Kritik der Sanitätsideologie angesichts des Golfkrieges / Bislang hat sich die kriegsmedizinische Mitarbeit für die Ärzteschaft nioch stets gelohnt / Dennoch ist die...

Von Thomas M. Ruprecht

„Du, Arzt am Krankenbett, wenn sie Dir morgen befehlen, Du sollst die Männer kriegstauglich schreiben, dann gibt es nur eins: Sag nein!“

Wolfgang Borchert

Medizinische Versorger militärischer Verbände glauben in der Regel, einen heroischen Samariterdienst am kranken oder verwundeten Soldaten zu leisten, der jenseits aller ethischen oder friedenspolitischen Kontroversen liegt. Eine dem einzelnen Kranken und der Gesellschaft verpflichtete ärztliche Hilfe gerät im Krieg jedoch unausweichlich mit den Verwertungsinteressen des Militärs in Konflikt, vor allem, wenn sie integraler Bestandteil der Truppe ist und Ärzte als Offiziere arbeiten.

Das Dilemma einer in fremde Interessen verstrickten Heilkunde wurde bisher kaum reflektiert, stattdessen verdrängt oder verschleiert. Wenn im folgenden vor allem Beispiele aus Deutschland genannt werden, ist dies ausschließlich der leichteren Zugänglichkeit entsprechender Quellen geschuldet, keineswegs jedoch der Ansicht, hier handele es sich um ein spezifisch deutsches Phänomen.

Mit der Industrialisierung der Kriegsführung im 19.Jahrhundert, dem Großeinsatz von Menschen und Waffen, wurde — im Gegensatz zu vorher — schon aus psychologischen und taktischen Gründen eine integrierte Verwundetenversorgung notwendig, da der sich „modernisierende“ Krieg auf den Schlachtfeldern dermaßen unerträgliche Zustände produzierte, daß die „Moral“ der Truppe auf dem Spiel stand.

Bereits im Krimkrieg (1853-1856) hatte Florence Nightingale bewiesen, was eine straffe militärmedizinische Organisation in den Lazaretten leistete: die Verluste an Menschenleben wurden erheblich reduziert, ein Großteil der Verwundeten erneut „verwendbar“.

Solcherlei Hilfe hatte allerdings einen Preis: Die vollständige Unterordnung der professionellen Helferinnen unter die militärische Hierarchie. Der in dieser Hinsicht effizient organisierte deutsch-französische Krieg 1870/71 lieferte die erfolgreiche Probe aufs Exempel, im Internationalen Roten Kreuz schließlich institutionalisiert, in Deutschland seit 1878 in der „Kriegssanitätsordnung“ niedergelegt.

Die kriegsmedizinische Mitarbeit lohnte sich für die Ärzteschaft. Einer der standespolitischen Höhepunkte war im Vorkriegs-Deutschland des Jahres 1914 die Abschaffung aller Rangunterschiede zwischen militärischem und medizinischem Offizierskorps. Die deutschen Ärzte zeigten sich wiederum erkenntlich. Hindenburg 1920, nach dem mißglückten „Griff nach der Weltmacht“, in seinen Lebenserinnerungen: „Würde unser Sanitätsdienst nicht auf der Höhe gestanden haben, auf der er sich tatsächlich befand, so hätten wir schon aus diesem Grunde den Krieg nicht so lange Zeit durchhalten können. Die Leistungen unseres Feldsanitätswesens werden sich dereinst [...] als ein besonderes Ruhmesblatt deutscher Geistesarbeit und Hingabe für einen großen Zweck erweisen.“

Jahre später heißt es dann im medizinischen Standardwerk zu C-Waffenverletzungen, abgefaßt zur „Einführung in die ärztlichen Aufgaben des chemischen Krieges“, das zwischen 1938 und 1944 zwölf Auflagen erlebte: „In Kriegen fällt dem Arzt eine besondere Rolle zu: Er wird, wie zu Friedenszeiten in der Hygiene, vom ersten Kriegstage an Führer sein. [...] Wenn die Zivilbevölkerung sich unter dem Schutz der staatlichen Organisation und ihren Ärzten gesichert fühlt, wird die Zerstörung der inneren Widerstandskraft, das erste Ziel des Gegners, schwer erreichbar sein.“

Und wiederum Jahre später: „Die Meinung, daß der Militärarzt ein wichtiger psychologischer Faktor für die Truppe ist, und ein guter Truppenarzt gelegentlich die Seele eines Bataillons werden kann, wird wohl von allen erfahrenen Ärzten geteilt“, so Hans Neuffer als Präsident der Bundesärztekammer 1956 noch ganz offenherzig. „In einer modernen Wehrmacht müssen die Soldaten wissen, daß für sie im Falle einer Krankheit, Verletzung oder Verwundung aufs beste gesorgt wird.“

Unwidersprochen blieb die Indienstnahme der Medizin für militärische Zwecke jedoch nicht, vor allem seitens der Opfer. Der einfache Soldat beurteilte sie zum Beispiel im Ersten Weltkrieg ganz anders. Dazu Oskar Maria Graf in seinem autobiographischen Roman Wir sind Gefangene: „,Meine Aufgabe ist, Sie baldmöglichst zu heilen, weiter nichts‘, sagte der Doktor mild und fast bittend. Plötzlich beugte ich mich ganz nahe an sein Gesicht, daß er ein wenig zuckte, und schrie laut und immer lauter: ,Sie sind der größte Verbrecher. Sie heilen nur, damit man uns wieder als Kanonenfutter brauchen kann! Sie sind schlimmer als jeder General und Kaiser, denn Sie benützen Ihre Wissenschaft nur, damit es wieder Leute zum Umbringen gibt! [...] Ein Zuhälter sind Sie, eine Hure sind Sie!‘“.

Sigmund Freud, nach Ende des Ersten Weltkriegs in einem Prozeß gegen den Wiener Psychiater und Wehrmediziner Julius Wagner von Jauregg um ein Gutachten gebeten, bezeichnete die Militärmediziner als „Maschinengewehre hinter der Front“, um kriegsmüde Soldaten in die Schützengräben zurück zu „therapieren“. Zu dieser „Behandlung“ zählten unter anderem Elektrofolter, die sogenannte „Kaufmann-Kur“ oder das „Pansen“, mehr oder weniger verhüllte Morddrohungen und Zwangsexerzieren.

Auch wenn die Methoden der Militärmedizin inzwischen durch psychologisch verfeinerte Techniken subtiler geworden sind, ihr Zweck ist weltweit derselbe geblieben: „Heute wie einst besteht der Auftrag des Sanitätsdienstes darin, die Gesundheit der Soldaten und die Kampfkraft der Armee zu erhalten“, so der frühere Inspekteur des Sanitäts- und Gesundheitswesens der Bundeswehr, W. Albrecht.

Diese Einbindung der Medizin in die militärische Logistik und Rationalität, meist auf Kosten der Zivilbevölkerung, führte die These von der rein humanitären Verpflichtung des Sanitätswesens selbst ad absurdum. Am gravierendsten war seine ideologische Krise nach 1945. Vor allem die Debatte im Zuge der westdeutschen Remilitarisierung machte das militärmedizinische Dilemma sichtbar; zu deutlich stand den ehemaligen Wehrmachtsärzten, jetzt wieder für den Aufbau eines Sanitätswesens zuständig, noch ihre Fremdbestimmung und hemmungslose Funktionalisierung im „totalen Krieg“ vor Augen.

Dennoch war ihr erkenntnisleitendes Interesse in den 50er Jahren die möglichst komplikationslose Wiederherstellung der althergebrachten Sanitätsversorgung, die posthume Korrektur der braunen „Entgleisung“, das Anknüpfen an die scheinbar humane Tradition des Roten Kreuzes.

Eine Herauslösung der Truppenmedizin aus der militärischen Hierarchie kam auf keinen Fall in Frage. „Der zivile Status des Sanitätsoffiziers“ ließe sich „bei der Art der Struktur der modernen Heere nicht durchführen“ — so der Präsident der Bundesärztekammer, Neuffer, „so wünschenswert es auch zunächst vom ärztlichen Standpunkt aus erschien“. Der Einwand zeigt immerhin, daß dieser Vorschlag ernsthaft diskutiert wurde. Den Impuls in diese Richtung aufzufangen und auf die restaurativen Ziele umzulenken, war in den fünfziger Jahren offenbar trotz aller Kontinuitäten kein leichtes Unterfangen.

Eine raffinierte Strategie verfolgte hier Oberstabsarzt Gustav Sondermann, Leiter der Sanitätskommission der Bundesärztekammer, Vizepräsident der Bayerischen Landesärztekammer und 1960 mit dem Großen Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland geehrt. Sondermann sprach in frappierender Offenheit von der Gefahr, „Erfüllungsgehilfe“ zu sein und — in Erinnerung an die Musterungspraxis der letzten Kriegsjahre — gar vom Truppenarzt als einem „Fleischbeschauer“ auf einem „Viehmarkt“.

Die Verantwortung dafür schob er jedoch — allen Erfahrungen der vorangegangenen Kriege zum Trotz — der Nazi-Diktatur zu, verneinte erneut ein der Militärmedizin immanentes ethisches Dilemma und läutete zur Entsorgung des „Restrisikos“ ärztlicher Unfreiheit die Renaissance der „souveränen Arztpersönlichkeit“ ein, eines „Arztsoldaten“, der „gemeinsam mit den übrigen Soldaten unter ein Gesetz des absoluten Pflichtbewußtseins tritt“.

Vermeintlicher Garant gegen Fremdbestimmung sei das „unmittelbare Ich/Du-Verhältnis“ zwischen Arzt und Soldat. „Er [der Arzt, d.A.] trotzt dem Element des Krieges einen Raum ab, in dem er den wunden Menschen birgt und versorgt“, mit der „Tapferkeit des menschlichen Herzens“ widme er sich seiner „unter der Einwirkung schwerer Waffen und des jederzeit zu erwartenden Einbruches vernichtender Gewalt zuchtvoll vollzogene[n] Aufgabe“.

Von Fremdbestimmung scheinbar keine Spur. Deutlicher ist hier schon die inzwischen zurückgezogene, keineswegs jedoch außer Kraft befindliche Zentrale Dienstvorschrift 49/50 der Bundeswehr. Beim berüchtigten „Massenanfall“ von Verletzten nach Einsatz von ABC- Waffen sei es die „militärische Aufgabe des Arztes [...], möglichst viele Patienten mit kleineren Verletzungen dienstfähig zu ihrem ständigen Einsatz zurückzuschicken. Er muß sich auf die Behandlung derjenigen konzentrieren, die voraussichtlich überleben werden.“

Triage nennt sich das im Fachjargon: statt sofortiger Versorgung der Bedürftigsten Selektion derjenigen mit der größten Aussicht auf Wiederverwendbarkeit; statt Notfallmedizin utilitaristische Kriegsmedizin: „Euthanasie“ durch unterlassene Hilfeleistung unter dem Kriterium der Dienstfähigkeit! Fazit: Militärmedizin und Sanitätswesen dienen zwar auch einem humanitären Zweck, hauptsächlich sind sie jedoch unverzichtbare Bestandteile militärischer Logistik.

Kollidieren ärztliche und militärische Zielsetzung, werden die individuellen (Über-)Lebensinteressen des Soldaten und der Rechtsanspruch der Gesellschaft auf gerechte Verteilung der medizinischen Ressourcen den Kriegszielen geopfert. Verspielt ist damit die ethische Grundlage der Medizin: Vom „nil nocere“ (nicht zu schaden), ihrer ethischen Grundlage überhaupt, kann keine Rede mehr sein. Ärzte sind nicht mehr Anwälte ihrer Patienten, sondern Vollzugsgehilfen der militärischen Vorgesetzten samt deren politischer Vorgaben.

Die doppelte ethische Buchführung des Sanitätswesens wurde freilich bereits im ausgehenden 19.Jahrhundert erkannt: In den Reihen der wachsenden Friedensbewegung. Sie glaubte nicht an die Möglichkeit einer „Humanisierung“ des Krieges. Statt fragwürdiger Hilfsangebote und hilfloser Therapie forderte sie wirksame Prävention. „Den Krieg in seinen Folgen zu mildern“, schrieb 1897 der Mitbegründer der Deutschen Friedensgesellschaft Alfred Hermann Fried zum Thema „Rotes Kreuz“, hieße „ihn ermöglichen und seinen Ausbruch zu erleichtern“; es sei der untaugliche Versuch, die Symptome der Krankheit zu beseitigen, ohne das Übel in seinen Ursachen zu bekämpfen.

„Das edle Wollen, die heute noch gesund herumlaufenden Kinder, die Jünglinge der nahen Zukunft, nach ihrem Zerschossenwerden durch die Kugel des einen oder des anderen Landsmannes der rothen Kreuzherren oder der rothen Kreuzdamen leiblich zu beschützen, mag schön gedacht sein, vernünftiger erscheint es uns, dafür zu sorgen, diesen Kindern und dereinstigen Jünglingen, die heute noch gesund und mit geraden Gliedern unter uns herumlaufen, diese Gesundheit zu erhalten, ihre geraden Glieder zu bewahren und sie vor dem Zerschossenwerden zu behüten [...] Wir glauben vielmehr, daß jene internationale Gesellschaft, die im Stande ist, für das größte Verbrechen unserer Zeit, für einen so großes Elend heraufbeschwörenden Krieg Vorsichtsmaßregeln festzusetzen und Gesetze zu stipuliren, die unter Kanonen von einer wild gewordenen Soldadeska respektiert werden sollen, daß eine sich solcher Humanitätsmacht bewußte Gesellschaft auch die Gewalt in den Händen hat, den Krieg selbst zu beseitigen.“

Ähnlich auch Baronin Bertha von Suttner: „Das Bestreben, künftige Kriege nicht aufkommen zu lassen“, werde „vom Zeitgewissen viel gebieterischer gefordert“ als „das Bestreben, für diese Kriege Sanitätsvorkehrungen zu treffen — was einem stillschweigenden Sanktionieren und Vorhersagen derselben gleichkommt“. Das Zitat stammt aus ihrem Vorwort zu Moritz Adlers Offenes Sendschreiben an P.T. Herrn Professor Theodor Billroth von 1892.

Billroth, damals bereits ein berühmter Chirurg, hatte 1891 für eine umfassende Verstärkung des Sanitätswesens plädiert. „Im Interesse der erst ,zu Verwundenden‘“, angesichts einer „bis zum Satanischen gesteigerte[n] Technik des Massenmordes“ hält ihm Moritz Adler, schriftstellernder Jurist und in die Rolle des Arztes schlüpfend, in einer fiktiven Rede seine Vorstellungen von den Aufgaben der Medizin entgegen: „Wir Ärzte, hohe Versammlung, sollten alle natur- und berufsgemäß Altruisten, oder was für den Denker dasselbe, aufgeklärte, veredelte, durch unsere tiefere Erkenntnis der menschheitlichen Solidarität geläuterte Egoisten sein. Wir sind die berufenen Heiler und Abwender des Unheils von anderen. Letzteres noch weit mehr und von Herzen als Ersteres; denn wir schwören alle zur Fahne der Prophylaxis, der Unheilsverhütung.“

Der Aufbau eines Sanitätswesens und die Arbeit der „Anticipationssamaritaner“ sei Teil des Rüstungswettlaufs, ohne sie wäre der Krieg „vielleicht längst auf dem Aussterbeétat“. „,Man soll den Teufel nicht an die Wand malen', sagt das Sprichwort. Was thun aber Ärzte und Philantropen anderes, die überall [...] den Regierungen die Versuchung zum Kriege in Gestalt freiwilliger und großartiger im Voraus angebotener Leistungen auf dem Präsentierteller darbringen, das Urteil der Massen in bezug auf die Notwendigkeit und Zulässigkeit zukünftiger Kriege fälschen oder im ungünstigsten Sinne beeinflussen, und den Machthabern zu ihrem und der Regierten Unglück die Gefaßtheit der Völker auf Alles und Jedes, was ihnen geboten werden möge, so recht ad oculos demonstrieren?“

In dieselbe Kerbe schlug ein „Nachruf“ des satirischen Wochenmagazins 'Kladderadatsch‘ auf dem internationalen Kongreß der Genfer Vereine vom Roten Kreuz 1869 in Berlin:

„Nicht, wie man die Wunden heile,

ist die große Zeitenfrage,

sondern, wie es anzufangen,

daß man keine Wunden schlage.

Nicht, wie man die wunden Krieger

und wie man die Todten bette,

sondern wie man tilg' auf ewig

wilder Schlachten Schädelstätte.

Nicht, wie brüderlich im Grabe

Freund und Feind vereinigt werden,

sondern wie man alle Völker

schon verbrüdre hier auf Erden.

Wollten solches doch beherz'gen

auch die Mächt'gen unsrer Tage:

Sorgt nicht, wie man Wunden heile

sorgt nur, daß man keine schlage!“

Kurz vor Beginn des II. Weltkrieges noch begannen britische Ärzte, über ihre Rolle im Krieg nachzudenken. 1938 erschien ein Buch mit dem Titel The Doctor's View of War. Im Vorwort beschreibt John A. Ryle, Professor der Heilkunde in Cambridge, wie eine Verweigerung ärztlicher Mitarbeit Kriege undurchführbar machen könnte: „Er [der Arzt; d.A.] erklärt Männer diensttauglich, impft sie gegen Infektionskrankheiten, überwacht ihre Gesundheit daheim und im Ausland, flickt sie wieder für die schwere Prüfung des Schlachtfeldes zusammen, macht ihnen schon durch seine Nähe zur Frontlinie Mut. Ohne ihn würden sich in der Tat sowohl der einfache Soldat als auch der hohe Befehlshaber verloren fühlen.

Es ist ein fesselnder, wenn auch gegenwärtig phantastischer Gedanke, daß der Ärztestand, der internationaler ist als jede andere Berufsgruppe, bei guter Zusammenarbeit dem Krieg aus eigener Initiative ein Ende bereiten oder zumindest seine Unwägbarkeiten erhöhen und seinen Zielen hinderlich sein könnte, um so die kriegslustigsten Regierungen innehalten zu lassen. Überall ist es ein anerkanntes Prinzip, daß die Vorbeugung der Behandlung vorzuziehen ist.

Entzögen die Ärzte den bewaffneten Kräften vor dem Krieg oder während desselben ihre Dienste, verweigerten sie die Untersuchung und Impfung von Rekruten, lehnten sie die sanitäre Beratung sowie die Ausbildung und Leitung von Feldlazaretten, Sanitätsstationen, medizinischen Transporten und Krankenhäusern ab, könnten sie so die Wirksamkeit des Stabes lähmen, die Probleme des Feldzuges zuspitzen und damit die Moral der Truppen derart schädigen, daß der Krieg fast undenkbar würde. Aktionen dieser Art hätten eine tiefgreifende Wirkung auf die Volksmeinung.

In einer solchen Dienstverweigerung (wenn eine solche Verweigerung als letzter Ausweg beschlossen würde) läge — verglichen mit der Inhumanität, die die Medizin gegenwärtig sanktioniert und verlängert — keinerlei Unmenschlichkeit. Aber lassen wir den Traum vorüberziehen und die Phantasie den Tatsachen weichen.“

Zu diesen Tatsachen zählte damals der drohende Krieg Hitler- Deutschlands, heute ist es das Gemetzel am Golf, diesem Interessenkonflikt „between wrong and wrong“, wie es Johann Galtung so treffend formulierte. Damals wie heute war mit dem Einsatz von Massenvernichtungsmitteln, der dauerhaften Verwüstung ganzer Erdregionen und der Ermordung von Millionen von Menschen zu rechnen.

Selbstverständlich muß alles unternommen werden, das Massaker zu verhindern. Was aber tun, wenn die Prävention versagt? Selbst pazifistische Ärzte zogen sich an diesem Punkt immer wieder voreilig auf die herrschende Sanitätsideologie zurück, angefangen von der Association médicale internationale contre la Guerre in Paris (1905-1914), der Internationalen Gesellschaft der Ärzte gegen den Krieg (1932-1933) bis hin zu einem Großteil der heutigen Internationalen Ärzte für die Verhütung eines Atomkrieges (IPPNW).

„Ich bin Arzt und hatte daher das einzigartige Glück, bei Ausbruch des Krieges nicht umlernen zu müssen; [...] Wir Ärzte aber fahren ganz einfach fort, Kranke zu heilen und zerbrochene Leiber zusammenzuflicken, uns ist auch nach geltendem Kriegsrecht der Feind kein Feind, sondern nur Objekt unserer Berufsarbeit. Für den Arzt existiert kein Krieg, braucht wenigstens kein Krieg zu existieren“ — so der Berliner Kardiologe Georg Friedrich Nicolai, einst Herzspezialist der deutschen Kaiserin, ab 1915 als notorischer „Querulant“ den Militärbehörden ein dauerhaftes Ärgernis und schließlich einer der bekanntesten deutschen Kriegsdienstverweigerer des Ersten Weltkrieges.

Die Umverteilung medizinischer Ressourcen zugunsten des Militärs und die Erfahrungen vergangener Kriege sprechen eine ganz andere Sprache. Der Ryle'sche Traum ist aktueller denn je. Die erneut sich abzeichnende, nur scheinbar zwangsläufige Prostitution der Medizin gegenüber militärischen Interessen auf beiden Seiten, ihre Zurichtung auf die scheinbaren Erfordernisse einer selbstmörderischen Massenvernichtung, die kriegspsychologisch wichtige Vortäuschung wirksamer Hilfsmöglichkeiten müßte bei allen Helferinnen und Helfern Anlaß zum Widerstand sein: Anstiftung zum kollektiven Ausstieg, zur präventiven Desertion aus dem utilitaristischen militärmedizinischen Korsett, dessen Handlungsmuster dem ärztlichen Bewahrungsauftrag meist diametral entgegengesetzt sind; Widerstand zur Rückgewinnung der Autonomie im Interesse der Opfer, zur Beendigung der Kolonisierung medizinischer Hilfeleistung zur Kriegsvorbereitung und -führung.

Selbstverständlich sollen Kranke und Verwundete so gut und so schnell wie möglich versorgt werden, wer immer sie seien, woher auch immer sie kommen, ohne Ansehen der Person. Entscheidend ist jedoch der Rahmen, in welchem diese Versorgung geschieht, da von ihm abhängt, welchen Interessen sie dient, in wessen Diensten sie im Zweifelsfalle steht: im Dienste militärischer Effizienz oder im Dienste der Patienten.

Dem ethischen Dilemma des Sanitätswesens kann nur entkommen, wer außerhalb militärischer Zusammenhänge und Hierarchien arbeitet. Das hieße zum Beispiel konkret: Abschaffung aller Weisungsbefugnisse des Militärs gegenüber dem Sanitätskorps und den medizinischen Hilfsorganisationen, gerechte Verteilung der Ressourcen unter den Opfern, d.h. keine Umverteilung medizinischer Hilfe zugunsten des Militärs, keine Selektion nach Wiederverwertungskriterien (Triage), keine Wiedereingliederung verletzter Soldaten in militärische Verbände gegen ihren Willen.

Es wäre Sache der WHO, der UNO oder auch Organisationen wie den IPPNW, Hilfsmöglichkeiten zu organisieren, die diesen Kriterien genügen. Das mag utopisch klingen, gerade jetzt. Medizinische Hilfe jedoch, die dem Anspruch des „salus aegroti suprema lex“ (das Wohl des Kranken ist höchstes Gebot) genügen, die wahrhaft humanitär sein will, muß personell und strukturell unabhängig von den kriegsführenden Parteien und ihren Zielen sein; sonst bleibt sie Instrument des Krieges und der Vernichtung und die Helferinnen und Helfer mitverantwortliche Helfershelfer.

Dr. med. Thomas M. Ruprecht ist Arzt, Mitglied der IPPNW und arbeitet am Universitätsklinikum Rudolf Virchow in Berlin-Charlottenburg