Logik der Eskalation

■ Iraks Angriffe auf Israel hätten in der US-Golfpolitik mitbedacht werden müssen ESSAY

Alle wußten, daß diese Gefahr besteht. In den letzten Monaten, als der Konflikt am Golf noch mit den Mitteln der Diplomatie bearbeitet wurde, hat die irakische Regierung wiederholt und in aller Deutlichkeit gedroht: Im Falle eines Krieges sei mit irakischen Angriffen auf Israel zu rechnen. Die USA suchten trotz dieser Gefahr daraufhin lediglich, Israel davon zu überzeugen, sich im Notfall dem militärischen Schutz der multinationalen Streitkräfte anzuvertrauen — und die von den USA verordnete Politik des „Low Profile“ aufrechtzuerhalten.

Die israelische Regierung fügte sich widerstrebend in die Notwendigkeit, den Vereinigten Staaten ihre Bündnispolitik gegenüber den arabischen Alliierten nicht durch allzu kriegerische Rhetorik unmöglich zu machen. Nach einer kurzen Phase des Zögerns und relativer Ruhe in den besetzten Gebieten wurden die Palästinenser allerdings noch härter unter Druck gesetzt als zuvor. Das Massaker auf dem Tempelberg, die Wiederaufnahme von Deportationen und Schüsse auf Demonstranten unterstützten die wohlkalkulierte irakische Propaganda, mit der die Betroffenen und die arabische Bevölkerung in den Nachbarstaaten von einem übetrzeugt werden sollten: daß es für den israelisch-palästinensischen Konflikt keine andere Lösungsstrategie gebe als die erpresserische Verknüpfung beider Konflikte — oder Krieg mit den USA. Nach dieser Logik war dann auch Israel als Verbündeter der USA den Angriffen preisgegeben. Parallel dazu erlaubte die PLO Saddam Hussein die anmaßende Vereinnahmung der „palästinensichen Sache“ für seine expansionistische Politik fortzusetzen.

Alle mühsam errungenen Fortschritte in Richtung einer israelisch- palästinensischen Zweistaatenlösung, die von der israelischen Friedensbewegung, dem palästinensischen Aufstand in den besetzten Gebieten und den gemäßigten Teilen der PLO erstritten wurden, sind im Verlauf der Eskalation der Golfkrise zunichte gemacht worden.

Die Staaten der Region haben eines gemeinsam, wofür sie nicht in vollem Umfang verantwortlich zu machen sind: Sie sind historisch aus der Aufteilung des Nahen und Mittleren Ostens durch die Kolonialmächte Großbritannien und Frankreich hervorgegangen. In der Folge wurden sie zur Klientel der USA, Westeuropas und der Sowjetunion, die um den Einfluß in diesem Gebiet rivalisierten, und deren politisches Steuerungsmittel vor allem „belohnende“ und „bestrafende“ Dosierung von Waffenlieferungen und Wirtschaftshilfe war.

Der Kalte Krieg ist nun vorbei. Doch aus dem „Engagement“ im Nahen und Mittleren Osten hat sich nur der ehemalige Ostblock zurückgezogen. Der Westen hingegen, allen voran die USA, nutzt die Gunst der Stunde, um nunmehr eine dauerhafte militärische Präsenz im Nahen und Mittleren Osten herzustellen.

Nicht zuletzt weil die Großmächte die materiellen Grundlagen für die Außenpolitik ihrer Klientel lieferten oder auch entziehen konnten, sind die Staaten der Region bis heute nicht in der Lage, die Sicherheit der eigenen Bevölkerungen durch eine pragmatische und auf gegenseitiger Anerkennung beruhende Politik im Verhältnis zu ihren Nachbarstaaten zu gewährleisten.

Vor dem Ende des Kalten Krieges hätte es der Irak kaum gewagt, seinen Konflikt mit Kuwait unter Anwendung militärischer Gewalt auszutragen. Israel hingegen, nach wie vor ein Klientelstaat, mußte in den letzten Monaten fürchten, im Interesse einer Aufrechterhaltung der amerikanisch-arabischen Koalition fallengelassen zu werden. Die Angst in Israel, die alten Privilegien amerikanischer Protektion zu verlieren, „übergeordneten“ Interessen geopfert zu werden, ist nicht allein auf den Willen zurückzuführen, die besetzten Gebiete zu halten. Sie reflektiert auch eine, wenngleich selten zur Sprache kommende, israelische Erfahrung: daß sich die Motive der amerikanischen (und europäischen) pro-israelischen Politik keineswegs mit den Motiven der proisraelischen Rhetorik decken. Anders gesagt: Die westliche Politik der Duldung israelischer territorialer Expansion und Ignoranz gegenüber den Ansprüchen der Palästinenser hatte mit Übernahme von Verantwortung für die Existenz des jüdischen Staates nichts zu tun. Das ist erneut deutlich geworden, indem ein Teil der westlichen Staaten bei der eskalierenden Handhabung der Golfkrise das Risiko eines irakischen Angriffs auf Israel in Kauf genommen hat.

Der irakischen Regierung dient die Drohung mit weiteren Angriffen auf Israel als Mittel, um die militärisch überlegene arabisch-westliche Allianz auseinanderzudividieren. Wie zuvor mit dem Junktim zwischen Palästinafrage und Golfkonflikt sucht Saddam Hussein nun auf diese Weise die Akzeptanz seiner Politik bei den arabischen Bevölkerungen insbesondere jener Staaten zu erhöhen, die sich am Truppenaufbau in Saudi-Arabien beteiligt haben. Die jüngsten Entwicklungen in den Maghreb-Staaten und die heftigen Loyalitätsbekundungen der Regierungen Syriens und Ägyptens gegenüber dem antiirakischen Bündnis zeigen an, daß sich Saddam Hussein dabei nicht vollkommen verkalkuliert hat. Die Spaltung zwischen Regierungen und Bevölkerung in den arabischen Staaten wird zunehmend deutlich.

Die Ambition einer „politischen Neuordnung des Mittleren Ostens“ (Bush) durch Zerschlagen der regionalen Supermacht Irak war der Grund, weshalb das immer wieder proklamierte Ziel einer Wiederherstellung der Souveränität von Kuwait eben nicht pragmatisch, durch Fortsetzung des Embargos und durch Verhandlung der irakisch-kuwaitischen Streitigkeiten verfolgt worden ist. Daß man hierfür einen Krieg im Mittleren Osten beginnen muß, war einem Teil der amerikanischen Öffentlichkeit nicht ohne weiteres beizubringen. Um die Akzeptanz der „militärischen Option“ zu erhöhen, brachten amerikanische Politiker speziell nach der letzten großen Meinungsumfrage mit für sie negativem Ergebnis die „irakische Atombombe“ und die Gefahr des Einsatzes von Giftgas mit der dadurch entstehende Bedrohung Israels in die Debatte. Das loyale Verhältnis der westlichen Öffentlichkeit gegenüber Israel wurde so für die Umwandlung der defensiven „Aktion Wüstenschild“ in eine offensive „Aktion Wüstensturm“ ausgebeutet. Die israelische Regierung hat gegen diese propagandistische Vereinnahmung des Existenzrechtes von Israel nichts unternommen.

Wie hätten die Hardliner auf beiden Seiten des Golfkonflikts wohl dagestanden, wenn von Israel im Verlauf der letzten anderthalb Jahre endlich ein direktes Verhandlungsangebot an die PLO ergangen wäre? Die PLO hätte sich nicht „auf den Schoß von Saddam Hussein“ gesetzt, wie es ein palästinensischer Intellektueller einmal ausgedrückt hat, und Saddam Hussein hätte das wirkungsvollste Instrument zur Mobilisierung der arabischen Öffentlichkeit und zum Versuch der Aushebelung der anti-irakischen Allianz gar nicht erst in Händen gehabt.

Israel ist heute möglicherweise gefährdeter als während früherer Nahostkriege. Die irakischen Rakten, die auf Israel abgeschossen werden, sollen zerstören. Sie dienen zugleich einem politischen Zweck: Selbst wenn die Sollbruchstelle in der anti-irakischen Allianz einen Gegenschlag der israelischen Armee überstehen sollte, werden sich die politischen Spannungen insbesondere in Saudi-Arabien, Syrien, Algerien, Marokko und Ägypten weiter erhöhen.

Der Preis, um den die Regierungen dieser Länder in der Allianz bleiben werden, ist die härtere Repression gegen ihre Bevölkerungen. Die saudische Regierung kann sich dann womöglich nur noch mit Hilfe der amerikanischen Armee an der Macht halten. Im gesamten arabischen Raum — und in Israel und den besetzten Gebieten — ist eine politische und militärische Dynamik in Gang gekommen, die katastrophale Folgen haben könnte. Saddam Hussein wird, falls er diesen Krieg überlebt, ungeachtet einer militärischen Niederlage womöglich das neue politische Idol der arabischen Welt. Nina Corsten