Mäßiger Strafrabatt für Lotze erwartet

Bundesanwaltschaft fordert im ersten RAF-Kronzeugenprozeß neun Jahre für Mord und Mordversuch/ Verteidiger Hoffmann bezweifelt Sinn einer Haftstrafe für „resozialisierte“ Angeklagte  ■ Von Gerd Rosenkranz

München (taz) — Wieviele Jahre Werner Lotze wird absitzen müssen, darüber mochte nach den gestrigen Plädoyers vor dem Bayerischen Obersten Landesgericht niemand im mäßig besetzten Saal eine Prognose abgeben. Spätestens nach dem Vortrag des Karlsruher Oberstaatsanwalts Klaus Pflieger ist jedoch klar: Die Bundesanwaltschaft betrachtet das bevorstehende Urteil im ersten Kronzeugenprozeß gegen ein früheres RAF-Mitglied weniger als juristische denn als politische Entscheidung. Wegen vollendeten Mordes an dem Polizeibeamten Hans-Wilhelm Hansen, mehrfachen versuchten Mordes, unter anderem an dem ehemaligen Nato-Oberbefehlshaber in Europa, Alexander Haig, und schwerer räuberischer Erpressung (Banküberfälle in Darmstadt und Nürnberg) forderte Pflieger eine Haftstrafe von insgesamt neun Jahren. Bei der Einzelbewertung der von Lotze gestandenen Taten errechnete der Staatsanwalt gar sechzehneinhalb Jahre. Ohne Anwendung der Kronzeugenregelung wäre Lotze eine lebenslange Strafe sicher.

Pflieger würdigte die rückhaltlose Aussagebereitschaft des DDR- Heimkehrers: „So rücksichtslos wie er früher von der Waffe Gebrauch gemacht hat, so schonungslos hat er jetzt ausgesagt.“ Wenn jemand die Kronzeugenregelung verdiene, dann dieser Angeklagte, meinte der Karlsruher Staatsanwalt.

Bis zuletzt — so war gestern zu hören — hatte es innerhalb der Bundesanwaltschaft regelrechte Flügelkämpfe über die Höhe des Strafantrags in diesem „Pilotverfahren“ gegeben. „Meilenweit“, meinte Pflieger, gingen die Meinungen darüber auseinander und er hatte dabei sicherlich nicht zuletzt die eigene Behörde im Kopf. Falsch seien jedenfalls beide Extrempositionen — die eine, die ein sehr moderates Urteil und damit ein eindeutig politisches Signal verlange ebenso wie die andere, die sich auch zehn Jahre nach der Übersiedlung Lotzes und anderer ehemaliger RAF-Aktivisten in die DDR allein an den damaligen Straftaten orientieren wolle. Ein zu hohes Urteil werde dem Staat erneut das Prädikat der Gnadenlosigkeit gegenüber seinen früheren Gegnern eintragen, ein zu niedriges werde die Debatte über einen angeblichen „Deal“ erst richtig entflammen. Neun Jahre lautete der brutale Kompromiß, mit dem Pflieger schließlich nach München geschickt wurde.

In jeder Hinsicht ungewöhnlich plädierte Lotzes Anwalt Dieter Hoffmann, der am Ende auf einen eigenen Strafantrag verzichtete: „Werner Lotze hat sich mit seiner Aussage, mit seinem Verhalten in den letzten Monaten in Ihre Hände gegeben.“ Im Verlaufe des Prozesses sei der Beschuldigte in dem Wissen immer ruhiger geworden „jetzt endlich das Richtige getan zu haben“. In seinem hochemotionalen, dramaturgisch brillanten Vortrag stellte Hoffmann die grundsätzliche Frage nach dem Sinn von Haftstrafen, insbesondere im Fall der DDR-Heimkehrer, bei denen es nach zehn Jahren straffreien Lebens nichts mehr zu resozialisieren gebe. Wie auch immer das Urteil lauten möge, der Tod des Polizisten sei nicht zu heilen. Daran habe natürlich auch ein langes Gespräch nichts ändern können, in dem er kürzlich bei der Witwe des erschossenen Polizisten (erfolgreich) um Verständnis für die heutige Haltung Lotzes geworben habe. Hoffmann an die Richter gewandt: „Durch Gerechtigkeit zu heilen, sind wir trostlos unfähig.“

Der Anwalt erinnerte aber auch daran, daß Lotze bei einer Festnahme vor zehn Jahren entsprechend den Regeln der RAF nicht ausgesagt hätte. Nach einem monate- vielleicht jahrelangen Indizienprozeß wäre er vermutlich zu einer niedrigen Strafe verurteilt worden, weil ihm weder der Polizistenmord noch der Haig- Anschlag hätte nachgewiesen werden können. Hoffmann stimmte den Ausführungen des Staatsanwalts zur Kronzeugenregelung ausdrücklich zu. Wenn ihm jedoch vor Jahresfrist jemand gesagt hätte, er würde einmal „vehement und öffentlich“ für die Anwendung dieses Gesetzes eintreten, dann hätte er ihn wohl ausgelacht. Dies sei eben der „Unterschied zwischen Theorie und Praxis“.

Die große Unbekannte in diesem politisch aufgeladenen Prozeß bleibt das Gericht. Ob sich die fünf Richter unter dem Vorsitzenden Ermin Brießmann den von Staatsanwaltschaft und Verteidigung im Grundsatz gemeinsam vorgetragenen politisch-juristischen Vorgaben umstandslos anschließen werden, scheint keinesfalls sicher. Noch nach den Plädoyers stellte Rechtsanwalt Hoffmann gestern den „Hilfsbeweisantrag“, man möge zwei hohe Beamte des Verfassungsschutzes und des Bundeskriminalamtes hören. Sie sollen konkret die verunsichernde Wirkung der Lotzeschen Aussagen auf die RAF-Gefangenen und ihr Umfeld bezeugen — jedoch nur für den Fall, daß das Gericht Lotze über sechs Jahre hinter Gitter bringen will. Das Gericht wird die Beamten am Montag hören. Im Umkehrschluß kann das nur heißen: Brießmann und seine Kollegen denken an sechs und mehr Jahre.