Die schöne Seele singt

■ »Du wilde Weinesranke« — Ein musikalischer Nietzsche-Abend im Bröhan-Museum

Musikaufführungen haben auf Nietzsche ungewöhnlich inspirierend gewirkt: »Jedes Mal kommt hinter einem Abend Musik ein Morgen voll resoluter Einsichten und Einfälle.« Gleiches kann man zumindest nach dieser Aufführung von Nietzsches eigenen Kompositionen nicht sagen. Statt dessen bleibt ein untrügliches Mißverhältnis zwischen dem, was der Philosoph als Theoretiker über Musik sagte und dem, was er selbst künstlerisch auszudrücken vermochte.

Dabei liegt beides scheinbar nahe beieinander. Die Verehrung der wilden Weinesranke, so der Titel eines zum Leitmotiv der Veranstaltung erhobenen Liedes des Komponisten Nietzsche, soll der dionysischen Sphäre künstlerischer Inspiration entsprechen, wie sie der Autor der Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik beschrieben hat. Aber Vorsicht ist angesagt, beginnt doch mit dem Erscheinen dieses Buches eine fragwürdige Rezeption des Philosophen, den man nur allzugerne zum Entdecker eines irrationalen Dunkeln erklärt, das seinen Ausdruck in der Musik findet.

Eine solche Interpretation legt leider auch Renate Reschke in ihrem Kommentar nahe, der die musikalische Darbietung einiger Klavierstücke und Lieder durch die Pianistin Mari Watanabe und Anne-Lisa Nathan (Sopran) begleitet. Musik, so erläutert die Professorin der Humboldt-Universität, habe Nietzsche durch ihre ästhetische Simulation von psychischen Erschütterungen fasziniert.

Dieser Effekt aber bleibt nicht nur beim Zuhören der vorgeführten Klavierimprovisationen — Beispielen harmloser Salonmusik — aus, sondern ist ein Element der autobiographischen Selbststilisierung eines selbsternannten Musikgenies. Dies könnte Anlaß zu einem kritischen Nietzsche-Referat geben, indem die vorgeführten Kompositionen als Belegmaterial zu analysieren gewesen wären. Statt dessen aber bereitet der Vortrag das »geistig ästhetische Abenteurertum«, dessen sich Nietzsche bezichtigt hat, unterhaltsam auf. Es fällt schwer, den Autor so vieler guter polemischer Texte als Komponist der hier zu hörenden weinerlichen Liedweisen, die bedauern, vergessen zu haben, »was die Schwalbe sang«, nicht einfach lächerlich zu finden. Reschke dagegen unterstellt ihm ein Bedürfnis nach künstlerischem Ausdruck als Gegenpol zu seinen philosophischen Arbeiten. Der große Kritiker, so nimmt es dankbar die Zuhörerschaft auf, hat Kultur nicht immer nur als Selbstbetrug denunziert, sondern sich ihren Vergnügungen auch einmal hingegeben. Ein beliebter Wunsch geistesgeschichtlicher Provenienz. Der Lieblingsspruch dieser Interpreten lautet: »Sie hätte singen sollen, diese schöne Seele, nicht schreiben.«

Schade, daß sich mit Reschke nun auch Forscher dieser These anschließen, die unter anderen politischen Bedingungen um ganz andere Wahrheiten wußten. Die Ästhetikprofessorin legte noch 1970 eine der bedeutendsten Arbeiten zu Hölderlin vor, die Kunst auf ihren gesellschaftlichen Kontext zurückführte, ohne ihrer Deutung als Ausflucht ins imaginär Irrationale zu glauben.

Eine solche Darstellung hätte auch Nietzsche verdient. Sein musikalischer Ehrgeiz ist außer als biographische Anekdote von nur geringer Bedeutung für seine Texte. Am ehesten gilt sie noch für sein Frühwerk. Seine größeren kompositorischen Anstrengungen nämlich enden mit dem Jahr 1872. Entscheidend dafür war die Kritik, die der Dirigent Hans von Bülow der sogenannten Manfred-Meditation widmete: »Abgesehen vom psychologischen Interesse hat Ihre Meditation vom musikalischen Standpunkt aus nur den Wert eines Verbrechens in der moralischen Welt.« Dieser Verriß traf Nietzsche vor allem deshalb, weil er den antimoralischen Effekt zwar in seinen Schriften niemals scheute, aber gerade in der Musik ein positives Gegengewicht zu den kritischen Tendenzen seines Werks suchte.

Mehr als in eigenen Kompositionen schrieb er diese Leistungen später den Werken Richard Wagners und, nach dem Bruch mit ihm, den Arbeiten seines Freundes Peter Gast zu. Fehleinschätzungen, die Nietzsche schließlich widerwillig aufgegeben hat. In seinen letzten Veröffentlichungen setzt er sich immer mehr von dem Versuch einer romantisch-künstlerischen Bewältigung der von ihm diagnostizierten Kulturkrise ab und beläßt es in dem großen Text Zur Genealogie der Moral bei einer kritischen Rekonstruktion. Im Sinne eines erlösenden Gesamtkunstwerks aber ist der Abend im Bröhan-Museum angelegt: das Jugendstil-Ambiente des Ausstellungsbestandes knüpft an die pseudo- dionysischen Qualitäten der Gesangsmotive aus Nietzsches frühen Liedern an, als könnte die Welt des Krieges, der die zahlreichen, überwiegend begeisterten Besucher des Konzertes entflohen sind, noch einmal ästhetisch überwunden werden. Thomas Schröder