Eskalation oder Waffenstillstand

■ Der Golfkrieg hat die nächste Eskalationsstufe erreicht

Die Bilder rufen Beklemmung hervor. Kleinkinder mit dem Kopf in einer transparenten Plastiktüte. Ein ganzes Volk lebt mit der Gasmaske in Griffweite. Zerstörte Häuser, verstörte Menschen. Angst vor Scud-Raketen und deutschem Gas. Kein Zweifel, daß in dieser dramatischen Situation die Glaubwürdigkeit der Friedensbewegung von ihrer Solidarität mit dem völlig unprovoziert angegriffenen Israel abhängt. Doch das Ansinnen der Bundesregierung geht viel weiter. Sie fordert die bedingungslose Unterstützung des Krieges als Ausdruck dieser Solidarität, als ob es ausgemachte Sache wäre, daß der Krieg letztlich den Sicherheitsinteressen Israels entgegenkommt und nicht umgekehrt vielleicht doch schadet. Wenn Bonner Politiker der Antikriegsbewegung Antiamerikanismus vorwerfen, mag das zwar auf einen marginalen Teil der breiten Protestbewegung zutreffen. Doch versteckt sich hinter der amtlichen Sorge um das Bild Deutschlands im Ausland letztlich nicht mehr und nicht weniger als die verblümte Aufforderung an die Kriegsgegner, der von den USA geschmiedeten antiirakischen Allianz nicht in den Rücken zu fallen und keinen Sand ins Kriegsgetriebe zu streuen. Letztlich um des Friedens willen.

Krieg um Frieden log vor einer Woche auch der 'Spiegel' auf seinem Cover. Wenn es den USA tatsächlich um den Frieden gegangen wäre, hätten sie weiterhin auf Sanktionen gesetzt, um Saddam Hussein zum Rückzug aus Kuwait zu zwingen. Bereits bevor die UNO am 29. November das fatale Ultimatum setzte, das im übrigen nie zwingend einen militärischen Schlag gegen den Irak forderte, hatten die USA jedoch ein Truppenkontingent samt einem Riesenarsenal von Angriffswaffen in Saudi- Arabien stationiert, dessen Umfang weit über die für die Durchsetzung der Sanktionen erforderlichen militärischen Mittel hinausging. Auf die Perspektive einer Nahost-Friedenskonferenz, um das Palästina-Problem und die Frage einer kurdischen Autonomie zu verhandeln, hätte sich das Weiße Haus ja auch einlassen können, ohne das von Saddam geforderte Linkage zu akzeptieren. Doch in Washington gewann die kriegerische Option offenbar schon früh an Gewicht, zumal sie versprach, im Zug der Befreiung Kuwaits auch das gefährliche militärische Potential des irakischen Diktators zerstören zu können – ein letztlich vernünftiges Ziel, das durch die UNO-Resolution allerdings nicht gedeckt ist. Denn es geht in diesem Krieg vorrangig um geopolitische Interessen, um die Ausschaltung des Iraks, der die Kontrolle der größten Erdölreserven der Welt durch das dem Westen wohlgesonnene Wahhabiten-Regime in Riad in Frage stellt. Die Wiederherstellung der kuwaitischen Souveränität und die Entmachtung eines blutrünstigen Diktators waren demgegenüber nachrangige Ziele. Immerhin hat der Westen den antiiranischen Bündnispartner Saddam Hussein auch noch aufgerüstet, nachdem dieser 1988 an einem einzigen Tag in Halabja 5.000 Kurden vergaste. Und er hat sich mit ihm so problemlos arrangiert, wie er es heute mit dem syrischen Diktator Assad tut, der 1982 bei der Zerstörung von Hama, der fünftgrößten Stadt des Landes, an die 20.000 Menschen totbombte.

Das erklärte Kriegsziel Frieden ist nun weiter entfernt denn je. Auf Bagdad fallen weiterhin täglich Unmassen von Bomben. Bilder, die mit Sicherheit mehr Beklemmung auslösen würden als jene aus Israel, erspart uns die große Koalition der Zensoren. Eine riesige Ölpest bedroht den Persischen Golf und die Wasserversorgung Saudi-Arabiens und der Emirate. Aller Wahrscheinlichkeit nach setzt der Irak Öl als Waffe ein, greift Saddam zur Ökokatastrophe als strategische Maßnahme. Und die Eskalation droht die nächsten Stufen zu erreichen. Ein schneller militärischer Erfolg der USA ist ausgeblieben. Das mörderische Potential des Iraks ist noch zu einem großen Teil intakt. Es ist nun nicht mehr auszuschließen, daß sich im Pentagon die kriegerischsten Falken durchsetzen, die auch vor einem Einsatz von Atomwaffen, selbstredend chirurgisch, nicht zurückschrecken, wenn Saddam droht, die Ölfelder in Brand zu setzen.

Wenn am Freitag fünf arabische Staaten vom UNO-Sicherheitsrat eine Debatte über einen Waffenstillstand forderten, wenn am Samstag in Bonn 200.000 Menschen dieselbe Forderung an die kriegsführenden Mächte erhoben, ist dies keine Kapitulation vor dem Scud- und Ölterror eines Diktators. Es ist ein Diktat der Vernunft. Vor dem Glauben an die Begrenzbarkeit des Konflikts, an die Kontrollierbarkeit der Dynamik haben aller Schönfärberei der Kriegspolitiker zum Trotz gerade die Kriegsgegner immer gewarnt. Die aktuelle Entwicklung gibt ihnen nun offenbar Recht. Dieser Krieg löst überdies kein einziges der Probleme, die den Nahen Osten seit der Entkolonisierung erschüttern. Je früher die USA und ihre Alliierten einen Waffenstillstand anbieten, je schneller der Druck der Antikriegsbewegung sie dazu zwingt, desto besser für sie, weil dann die westlich- arabische Allianz die besten Überlebenschancen hat, desto besser für Israel, weil eine Eskalation des Krieges dessen Sicherheit nicht erhöht, sondern zusätzlich gefährdet, und desto besser für die arabischen Staaten, die in Schutt, Asche und Ölschlacke zu versinken drohen. Je später der Waffenstillstand, desto größer das menschliche Leid, die materielle Zerstörung, das ökologische Desaster, desto größer der Haß depravierter arabischer Massen, die nicht so schnell vergessen werden, was die eine halbe Million Mann starke westliche Invasionsarmee in wenigen Tagen zu zerstören vermochte, desto größer der Haß auf Israel, den vermeintlichen Statthalter des Okzidents im Orient, desto kleiner die Chancen auf einen dauerhaften Frieden. Thomas Schmid