Der Hochsitz oder die klammheimliche Freude am Krieg

Zweites Tischgespräch im Bistro „Universum“ am Lehniner Platz, Berlin, aufgezeichnet am 25.1.1991  ■ Von Friedrich Christian Delius

Caspar, Mitte Dreißig, ausgebildeter Germanist, tätig als Koch, Landschaftsgärtner oder Taxifahrer, sitzt an einem Ecktisch. Falk, Anfang Vierzig, Beruf: Politologe, Anwalt oder arbeitsloser Schauspieler, kommt hinzu.

Falk: Du schon wieder! Sitzt hier und trinkst deinen Cappuccino wie in den guten alten postmodernen Zeiten von vorletzter Woche!

Caspar: Richtig. Grüß dich.

Falk: Und demonstrierst nicht und meldest dich nicht zur Front, alter Drückeberger?

Caspar: Ich wart' auf eine Freundin.

Falk: Du Pazifist! Etwa die Beleuchterin von der „Schaubühne“?

Caspar: Genau die.

Falk: Und deine Liebe zur Freiheit? Was sagt sie dazu?

Caspar: Soweit sind wir noch nicht.

Falk: Keine Ausrede: Was ist stärker, deine Angst vor dem Krieg oder deine Liebe zur Freiheit? Das ist hier die Frage! Das mußt du jetzt beleuchten, mein Lieber!

Caspar: So, gut gespielt, aber nun laß mal den bissigen Ton.

Falk: Das ist der vornehme Ton der 'FAZ‘. Jetzt geht's ums Ganze, jetzt will man zack, zack Antwort. Was ist stärker, meine Angst vor dem Krieg oder meine Liebe zur Freiheit? Wenn ich das wüßte! Die 'FAZ‘ verlangt Antwort von mir, von dir, von unsereinem, eine eindeutige Haltung. Kaum ist der Krieg da, mußt du Haltung annehmen. Mit den bequemen Zweideutigkeiten ist Schluß jetzt, und wehe, du ruhst dich aus auf der historischen Schuld...

Caspar: Versteh' ich nicht.

Falk: Kein Wunder, du liest ja auch die falschen Zeitungen. Und machst nicht den geringsten Versuch, von deinem Hochsitz runterzukommen.

Caspar: Du hast schon bessere Scherze gemacht, Falk. Und wie ich dich kenne, sitzt du jetzt auch öfter vorm Fernseher.

Falk: Ich mein' nicht deinen Fernsehsessel, ich meine deinen Hochsitz der Moral.

Caspar tippt sich an die Stirn

Falk: Hier, bitte: 'Auf dem Hochsitz der Moral', von Joachim Fest.

Caspar: Verstehst du das? Ich meine, wer auf dem Hochsitz sitzt, der schießt doch, normalerweise, Rehe, Hasen, Wildschweine und so weiter. Ich habe keine Flinte, keinen Jagdschein, und ich wüßte nicht, wer in der Friedensbewegung...

Falk: Das ist ja das Gefährliche. Sitzen da rum und schießen nicht! Also, runter mit dir!

Caspar: Wohin? In den Schützengraben?

Falk: Noch nicht, erst kommt die innere Mobilmachung, erst mal mußt du deine inneren Reserven gegen den Krieg aufgeben.

Caspar: Hör mir auf mit deiner 'FAZ‘, hast du von der was andres erwartet? Na also. Halt dich ans Feuilleton, da wirst du schon Widerstand finden zwischen den Zeilen.

Falk: Das ist es ja gerade, weg wie der Schnee im Januar. Mit dem Tag des Kriegsbeginns hat sich die Sprache geändert. Jeden Tag ein neuer längerer oder kürzerer Artikel, der den Krieg aufs eleganteste analysiert.

Caspar: Die sind doch nicht etwa für Krieg?

Falk: Nein, so direkt nicht. Aber täglich findest du neue Verfeinerungen der inneren Mobilmachung. Richtig attraktiv ist der geworden, der Krieg als essayistische Fundgrube. Als müsse da ganz schnell was nachgeholt werden. Und jeden Tag muß ein anderer Redakteur ran.

Caspar: Woher weißt du, daß sie müssen?

Falk: Also freiwillig, gut. Jedenfalls werden erst mal Leute lächerlich gemacht, die gegen den Krieg sind. Nichts leichter als das. Wer eine Parole in den Wind hält, ist immer lächerlicher als ein Bomberpilot, der nach getaner Arbeit sein Frühstück verdient hat. Der ganze Birkenstock- Mief und diese Friedensfrömmigkeit, wer da nicht Stoff für Sottisen findet, hat den Beruf verfehlt. Aber die feuilletonistischen Kriegsberichterstatter tun so, als ob irgendeiner von diesen guten Menschen Saddam wäre, nur weil auch andere Namen auf die Plakate geschrieben werden. Dabei waren manche von denen schon gegen ihn, als es die Kriegsfeuilletonisten völlig kalt ließ, wie viele Kurden, wie viele Iraner und Iraker er umbrachte...

Caspar: Das Spielchen, wer was zuerst, lassen wir mal. Aber meinst du nicht, daß manche doch etwas blind sind gegenüber diesem Verbrecher, der nicht Israel, sondern die ganze Welt...?

Falk: Vielleicht gibt's ja solche. Aber ich hab noch keinen gesehen, der für Saddam gewesen wäre, hierzulande. Wenn's um die Auftragsbücher der deutschen Wirtschaft und andere Betriebsgeheimnisse geht, dann weiß man in Frankfurt genau Bescheid: „99 Prozent der deutschen Unternehmen haben sich korrekt verhalten.“ Aber wer schaut mal auf die Straße und schreibt dann: „99 Prozent der deutschen Demonstranten haben sich korrekt verhalten“?

Caspar: Man kann einen Verbrecher auch unterstützen, indem man sich korrekt verhält.

Falk: Das sag mal der Industrie und denen, die Saddams Bunker korrekt und Hermes-versichert gebaut haben, der Gewerkschaftsbaufirma.

Caspar: Korrekt, weiß ich. Aber was treibt der Krieg im Feuilleton?

Falk: Zum Frühstück wird zurückgeschossen. Nicht gegen die deutschen oder andere westliche und östliche Firmen und andere Abonnenten, die den Krieg ermöglicht haben, sondern gegen die Kriegsgegner.

Caspar: Aber wir haben doch nicht August 1914.

Falk: Eben, das ist ja die Gemeinheit. Die Deutschen wollen einfach nicht, sie „ruhen sich auf ihrer historischen Schuld“ aus, reden sich „auf ihre historischen Traumata heraus“ und so weiter. Dagegen muß dringend etwas unternommen werden. Da kannst du wieder lernen, wie die Sprache als Waffe herhalten kann. Nicht die Soldaten, die Generäle oder Herr Saddam leiden an „einer Imagination, in deren Mittelpunkt Tod und Untergang stehen“, sondern die Friedensdemonstranten. Oder der „Unwille, Unterscheidungen zu treffen“ wird nicht denen vorgehalten, die Giftgas abschießen oder Tel Aviv terrorisieren oder die Wasserwerke von Bagdad bombardieren, sondern den Demonstranten. Noch nie waren die fürchterlichen Folgen so exakt absehbar, die ein Krieg bringen wird, und der neue Rassenkampf in Europa, das sag ich dir, wird nur die geringste Katastrophe sein, und das schiebt man beiseite: „Nie gab es einen Protest, der so ohne Argument war.“ Und „Denkverzicht“ oder gar „Druck zum Denkverzicht“, dreimal darfst du raten, wo der zu finden ist. Und wer oder was fördert den irakischen Diktator? Die Politiker, die so tölpelhaft mit ihm umgesprungen sind, daß bald ganz Arabien hinter ihm steht? Die unfähigen Profis von CIA und KGB? Französische Industrielle oder deutsche, die rasch mal die Reichweite der Raketen bis Israel verlängert haben? Na? Wer? Der deutsche Mensch mit tropfender Kerze.

Caspar: Den ich auch zum Kotzen finde. Aber bist du sicher, da ist wirklich kein Antiamerikanismus bei?

Falk: Den Vorwurf des Antiamerikanismus kenn' ich noch aus der Zeit, als wir das gleiche gemacht und gesagt haben wie Millionen Amerikaner, Nordamerikaner wohlgemerkt.

Caspar: Mit dem Vietnamkrieg kannst du das aber nicht vergleichen.

Falk: Tu' ich ja nicht. Der Vorwurf jetzt kommt von Leuten, die fleißig übersehen, daß der Protest gegen die deutschen Kriegsgewinnler gerichtet ist. Noch einen Monat, dann wirst du Antiamerikaner genannt, wenn du sagst, daß es auch um Öl ging bei der ganzen Scheiße. Ist es antiamerikanisch, sich auf den ehemaligen US- Sicherheitsberater, einen Falken von hohen Graden, Herrn Brzezinski, zu berufen, der für die Fortsetzung des Embargos war und den Krieg für unnötig und fahrlässig hält? Und ist es antiamerikanisch, wenn ich von Bushs Antisemitismus spreche, der Israel aufs Spiel setzt oder so lange braucht, bis er Israel mit Antiraketen schützt?

Caspar: Du gehst ja ran heute.

Falk: Ich weiß: UNO-Beschluß, der Verbrecher muß weg, je früher, je besser, Schutz Israels, alles klar, aber wenn es antiamerikanisch sein soll, daß man die USA zu Recht dafür verantwortlich macht, daß die Begründung für den Krieg faul ist... Das hat ja nun Tahar Ben Jelloun nochmals ausführlich begründet in der 'Zeit‘. Was faul ist, merken ja nicht nur die Araber, und wenn die Herren Feuilletonisten schon keine politischen oder ökonomischen Analysen lesen oder die Nato-Pläne studieren...

Caspar: Was für Nato-Pläne?

Falk: Ja, man muß schon wieder BBC hören.

Caspar: Wieso?

Falk: Wie im Zweiten Weltkrieg. Peinlich, peinlich, aber da kriegst du mehr Hintergründe als auf den deutschen Sendern. Nur bei der BBC hab' ich gehört, daß der Aufmarsch im Sommer nach einem Plan ablief, den die Nato acht Jahre in der Schublade hatte. Deshalb alles so fix, und die Arabische Liga nicht mehr gefragt, egal, die Hauptsache, Saddam ist ein Kriegswahnsinniger, aber um ihn zu stoppen, müssen ja nicht alle wahnsinnig werden. Selbst wenn sie den dritten Weltkrieg noch vermeiden können, sicher ist nur, daß der Frieden danach keinen Frieden bringt. Und wer behauptet, das sei nicht vermeidbar gewesen, ist naiv, naiver als jeder Demonstrant vom Adenauerplatz...

Caspar: Und wie hältst du's mit Israel?

Falk: Broder hat dazu das Richtige gesagt: Alle deutschen Politiker nach Israel und den Papst nach Bagdad.

Caspar: Ich meine dich. Würdest du für Israel demonstrieren?

Falk: Ja.

Caspar: Also gegen die Palästinenser?

Falk: Nein. Für die auch, solange sie nicht Saddam bejubeln.

Caspar: Aber das geht doch nicht!

Falk: Doch. Genau das. Diese Konflikte werden nämlich nicht gelöst mit Schwarz/Weiß, Pro/Contra, Auge/Zahn. Mein Freund aus Israel sagt: Ich seh' unsre Kinder mit der Panik in den Augen, wenn sie die Gasmasken anlegen, aber ich kann darüber doch nicht die Panik in den Augen der Kinder in Beirut oder in Bagdad vergessen. Und das schlimmste ist, ich darf nur über unsere Kinder reden, sagt er. Und deshalb, verstehst du, lass' ich mich auf diese Lüge der Verkürzung nicht ein, hier nicht, noch haben wir keine Militärzensur, noch nicht!

Pause

Caspar: Ist ja gut, lies weniger 'FAZ‘.

Falk: Nein, ich muß doch wissen, was kommt.

Caspar: Was kommt, ist die Hochkonjunktur der Vereinfachung. Je mehr Tote, je mehr Kosten, je riskanter das Spiel mit der totalen Umweltkatastrophe, je mehr Zensur, desto mehr stören differenziertere Ansichten, desto mehr müssen die Meinungen auf Vordermann gebracht werden: die Blicke verengt, die Farben schwarz-weiß, das Argument versimpelt, die Wahrheiten zensiert. Das geht doch schon los, überall. Eine neue Logik ist angesagt, und wenn du ihr nicht folgst, sollst du wenigstens alles für zwecklos halten.

Falk: So abgeklärt schon?

Caspar: Ich hab' einen glücklichen Griff ins Bücherregal getan. Karl Kraus, Die letzten Tage der Menschheit.

Falk: Pessimist.

Caspar: Ganz und gar nicht. Es ist eher erheiternd. Alles, was du da eben zitiert hast, kommt mir vor wie vorhin bei Kraus gelesen, alles über den „seelischen Aufschwung des Hinterlandes“. Oder wie die Industrie schon damals die gleichen Geschichten... Sogar die Überschrift zu deinen Sätzen: „Im Krieg geht es um Leben und Tod der Sprache.“ Er übertreibt immer ein bißchen, da gewöhn' ich mich besser an 1991.

Falk: Vergiß nicht, daß man sogar in den USA schon demonstriert mit der Parole „Die Wahrheit ist das erste Opfer des Krieges“.

Caspar: Aber warum diese intelligenten Menschen aus Frankfurt so inbrünstig die innere Mobilmachung vorbereiten, kannst du dir auch nicht erklären?

Falk: Ich weiß es nicht, Begeisterung für Gewaltphantasien oder ein perverses Vergnügen an der Spielothek Bagdad halte ich für unwahrscheinlich. Es ist eher die klammheimliche Freude am Krieg, an einem neuen Gut-/Böse-Schema, das die Welt ein wenig übersichtlicher macht. Das erleichtert.

Caspar: Dich nicht auch?

Pause

Falk: Mich auch.

Caspar: Und deine klammheimliche Freude? Wenn die Bombe messerscharf den irakischen Bunker trifft?

Falk: Zugegeben. Aber...na, du weißt schon. Und die Erleichterung, wenn die Patriot-Rakete nicht danebengeht!

Pause

Falk: Jetzt weiß ich die Antwort.

Caspar: Welche?

Falk: Auf die Gretchenfrage der 'FAZ‘. Meine Liebe zur Freiheit ist so stark, daß ich meine Angst vor dem Krieg nicht verstecken will.

Caspar: Das wird sie nicht beeindrucken. Noch ein paar Tage, dann heißt es: Wer gegen den Krieg ist, ist für Saddam, Punkt. Aber sag mal, ist da wirklich keine abweichende Meinung zu lesen?

Falk: Abweichend nicht. Einer schrieb immerhin: „Man kann diese Friedenssehnsucht verstehen, gutheißen und teilen und dabei doch ihre irrationalen und pathologischen Züge kritisieren.“ Da bin ich ganz d'accord. Aber nun sollen sie auch mal die irrationalen und pathologischen Züge der Kriegführenden und der Kriegsberichterstatter zwischen Frankfurt und...

Caspar: Zu spät. Bald gilt nur: Mitmachen, Ausrufungszeichen. Wie bei Karl Kraus nachzulesen, vorzulesen: „Im Krieg wird jeder zum Vorgesetzten seines Nebenmenschen.“

Falk: Gut, dann geh ich. Ich muß los. (Er zahlt) Die proben aber lange heute.

Caspar: Immer länger. Aber das Licht ist das Wichtigste im Theater.

Falk: Sagt sie das?

Caspar (schreit): Willst du schon wieder ein Zitat hören oder was?

Falk: Ist ja gut.

Caspar: Verzeihung, schlecht geschlafen.

Falk: Du auch?

Falk geht ab.

(Das erste Tischgespräch zwischen Falk und Caspar erscheint unter dem Titel Europa, der Schießbefehl und der Zweite Hauptsatz der Thermodynamik in der 'Neuen Rundschau‘, S. Fischer Verlag)