Schmücker-Prozeß nach 15 Jahren eingestellt

Das Berliner Landgericht schloß gestern die Akten im bisher längsten Prozeß der deutschen Justizgeschichte/ Ein faires Verfahren war nicht mehr möglich/ Besonders die Verquickungen des Verfassungsschutzes machten den Mord unaufklärbar  ■ Von Vera Gaserow

Berlin (taz) — Nach 591 Verhandlungstagen und mittlerweile fünfzehnjähriger Verfahrensdauer hat das Berliner Landgericht gestern die Akten im bisher längsten Prozeß der bundesdeutschen Justizgeschichte zugeklappt: Die 18. Große Strafkammer stellte den sogenannten Schmücker-Prozeß im vierten Verfahrensdurchgang ein. Die Kosten des Mammutverfahrens, inzwischen weit über zehn Millionen Mark, trägt die Landeskasse. Die fünf Angeklagten werden für ihre bis zu sieben Jahre dauernde Untersuchungshaft finanziell entschädigt.

„Der Mordfall Schmücker“, so beschied es das Gericht in seiner Urteilsbegründung, „ist auch heute, nach sechzehn Jahren nicht aufgeklärt, und er wird es wohl niemals werden.“ Eine Einstellung eines Mordverfahrens sei zwar umstritten, aber im Verlaufe der Prozesse seien die fünf Angeklagten so massiv „in ihrem Recht auf ein faires Verfahren beeinträchtigt worden“, daß die Kammer nur noch für die Einstellung habe entscheiden können. Durch die überlange Prozeßdauer und die zahllosen, dem Gericht und der Verteidigung vorenthaltenen Akten und Beweismittel seien „fundamentale Grundsätze des Rechtsstaates verletzt worden“.

Noch schwerwiegender, begründete die Gerichtsvorsitzende Ingeborg Tepperwien, sei jedoch ein die Grenzen der Rechtsstaatlichkeit überschreitendes „geheimes Zusammenspiel von Berliner Landesamt für Verfassungsschutz und Staatsanwaltschaft“ gewesen. Dadurch sei ein „gordischer Knoten“ geknüpft worden, der auch durch eine längere Beweisaufnahme nicht hätte durchschlagen werden können“.

Zwar wird die Staatsanwaltschaft nun auf Weisung ihres obersten Vorgesetzten Revision gegen die Einstellung einlegen müssen. Der Bundesgerichtshof, der im Verlaufe der schier unendlichen Geschichte des Schmücker-Prozesses bereits drei Schuldsprüche gegen die fünf Angeklagten wiederaufgehoben hat, wird es aber schwer haben, die Argumentation des Gerichts zu verwerfen. Denn anders als in den drei vorangegangenen Prozeßdurchläufen hat sich das Gericht sehr intensiv und kritisch mit den skandalreichen Begleitumständen beschäftigt, unter denen Ulrich Schmücker im Juni 1974 ermordet wurde. Was herauskam, sind Szenen eines Lehrstücks über die Arbeitsweise des Verfassungsschutzes und dessen scheinbar selbstverständliche, aber geheimgehaltene Zusammenarbeit mit den Ermittlungsbehörden.

Zur Erinnerung: Im Juni 1974 wird der Berliner Student Ulrich Schmücker im Berliner Grunewald erschossen aufgefunden. Kurz vor seinem Tod war er innerhalb der militanten linken Szene als Spitzel des Verfassungsschutzes enttarnt worden. Einige Wochen nach dem Mord werden in Westdeutschland sechs tatverdächtige Personen aus dem Umfeld einer Wolfsburger Kommune festgenommen. Die Aufklärung des Falles scheint denkbar einfach, denn aus der Gefängniszelle heraus legt einer der Verdächtigen — der spätere Kronzeuge Jürgen Bodeux — ein Geständnis ab. Er belastet seine fünf früheren „Genossen“ schwer.

Nach nur nur 37 Verhandlungstagen glaubt ein Gericht 1976 den Mordfall aufgeklärt und verurteilt die Angeklagten wegen Mordes. Die Hauptangeklagte Ilse Schwipper erhält „lebenslänglich“. Doch die Verteidiger gehen erfolgreich in Revision.

Der Schmücker-Prozeß wird zum zweiten und schließlich zum dritten Mal aufgerollt. Er endet jedesmal mit einem Schuldspruch für die Angeklagten.

Im Verlauf der Prozesse wird aber immer deutlicher, wie sehr Verfassungsschutz und Justiz in den Mord an dem Informanten verwickelt sind. Und sie tun alles, die Wahrheit nicht ans Tageslicht kommen zu lassen: Vom Gericht geladene Zeugen erhalten keine Aussagegenehmigung, Berge von Akten bleiben der Verteidigung und dem Gericht vorenthalten, gezielte Versteckspiele werden in Gang gesetzt.

Ein wenig Licht kommt am Ende des dritten Prozeßdurchlaufes in das Gestrüpp der Verwicklungen: Mehr als zehn Jahre nach der Tat enthüllen Presserecherchen, daß der Verfassungsschutz bereits seit 1974 im Besitz der Mordwaffe ist. Er hat sie mit Wissen der Staatsanwaltschaft im Panzerschrank verwahrt, anstatt sie dem Gericht zu übergeben. Offenbar wird auch: Einer der Tatverdächtigen, der angeblich flüchtige Volker Weingraber, war als hochkarätiger V-Mann des Verfassungsschutzes unmittelbar in die Tat verwickelt. Ein daraufhin eingesetzter parlamentarischer Untersuchungsausschuß gräbt schließlich aus den geheimen Beständen des Landesamtes für Verfassungsschutzes einen Berg neuer Erkenntnisse und Akten hervor, die über Jahre hinweg den Gerichten und den Verteidigern der Angeklagten vorenthalten waren.

Nur einen Bruchteil der neuen und alten Skandale, der Widersprüche und geheimen Verwicklungen konnte Richterin Tepperwien gestern aufzählen. Dabei sparte sie auch nicht mit deutlicher Kritik an ihren Juristenkollegen von der Staatsanwaltschaft. So habe der mit den Ermittlungen beauftragte Staatsanwalt Przytarski unmittelbar nach der Tat gegenüber dem Kronzeugen Bodeux unzulässige Versprechungen einer Strafmilderung gemacht. Bei zahlreichen Vernehmungen seien zudem unzulässige Vernehmungsmethoden angewandt worden, die eindeutig gegen die Strafprozeßordnung verstießen. Darüber hinaus habe der Verfassungsschutz das Verfahren dadurch gesteuert, daß er die Staatsanwaltschaft ständig mit Informationen bedient habe, die den anderen Prozeßparteien vorenthalten blieben.

Höhepunkt dieses geheimen und unzulässigen Zusammenspiels sei schließlich die in „bisher nicht gekanntem Maße praktizierte Ausspähung der Verteidung“ durch einen eingeschleusten V-Mann in der Kanzlei des Rechtsanwalts der Hauptangeklagten gewesen.

„Über Jahre hinweg“, so das Fazit des Gerichts, „haben zwei Verfahren stattgefunden: eines im Gerichtssaal und eines hinter den Kulissen, gegen das sich die Angeklagten gar nicht wehren konnten, weil sie davon keine Kenntnis hatten.“