»Es gibt auch eine Steuerpflicht«

■ Gespräch mit Regierungsdirektor Dr. Wolfgang Steinlechner, Leiter des Kreiswehrersatzamts Berlin II in Pankow

taz: Wie fühlen Sie sich in Berlin mit der Aufgabe, die Wehrerfassung in West-Berlin aufzubauen? Als willkommener Gast?

Wolfgang Steinlechner: Meine ursprüngliche Aufgabe war es, zum 3. Oktober 1990 die vorhandenen Wehrkreiskommandos zu einem Kreiswehrersatzamt zusammenzufassen, die verunsicherten Mitarbeiter der Kommandos moralisch aufzubauen. Unter ihnen auch die Spreu vom Weizen zu trennen, also Stasi- Mitarbeiter und Polit-Offiziere kündigen zu lassen. Unter den Mitarbeitern fühle ich mich gut aufgenommen in einer Art Vertrauensverhältnis.

Können Sie eine Gesamtzahl von Wehrpflichtigen in ganz Deutschland und den Anteil von alten, neuen Bundesländern und Berlin nennen?

Das kann ich Ihnen nicht genau sagen, außer für Berlin: Hier haben wir pro Geburtsjahrgang ungefähr 14- bis 16.000, davon in West-Berlin 7- bis 14.000. Die Zahl aller Wehrpflichtigen in Berlin dürfte bei rund 90.000 liegen. Ich zähle nur die, die für eine Einberufung in Frage kommen, also die zwischen 18 und 21 Jahren.

Ist die Zahl der freiwilligen Bewerber aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit in Ost-Berlin besonders groß?

Der Wehrdienstberater, ein Stabsfeldwebel, auch aus dem Westen, hat jede Menge Besucher. Das Interesse ist groß. In unserem Amt haben wir als Gast von den Streitkräften einen Wehrdienstberater, der sich um die freiwilligen Bewerbungen kümmert und demnächst mit einer Zeitungsanzeige an die Öffentlichkeit gehen wird.

An welchen Jahrgängen der »echten« Westberliner sind Sie am meisten interessiert, wie kommen Sie Forderungen nach Vertrauensschutz nach?

Wir wissen noch nicht genau, welche Jahrgänge wir mustern können. Die Sparpolitik der Bundesregierung bedeutet für uns, daß wir gerade so viele Stellen haben, um einen Jahrgang pro Jahr zu mustern, diejenigen, die gerade das achzehnte Lebensjahr vollendet haben. Der Aufbau einer entsprechenden Verwaltung ist ein großes Problem. Zuerst müssen unsere Mitarbeiter, die fast ausschließlich aus dem Osten kommen, lernen, wie rechtsstaatliche Verwaltungsverfahren durchzuführen sind. Wir brauchen pro 4.000 Wehrpflichtige jährlich einen Musterungsausschuß. Um die Beisitzer der Musterungsausschüsse von den Bezirksverordnetenversammlungen wählen zu lassen, brauchen wir eine Rechtsverordnung, die im Entwurf vorliegt und in der nächsten Sitzung des Abgeordnetenhauses verabschiedet werden soll. Mit der Musterung beginnen können wir voraussichtlich im kommenden Sommer.

Wieviele Fälle von »Wehrflüchtlingen« haben Sie bisher aus Westdeutschland bekommen?

Mein Amt hat ca. 100, Treptow nicht über 200 Fälle.

Wo stellt man Unabkömmlichkeitsanträge?

Da es entsprechende Stellen noch nicht gibt, sagen wir den Betroffenen, sie mögen an uns schreiben. Wenn sich die Einwände als einigermaßen zutreffend erweisen, wird nicht einberufen.

Sind Heirat oder Schwangerschaft der Partnerin Hinderungsgründe?

Das wird großzügig gehandhabt. Verheiratete oder kurz vor der Heirat Stehende werden in der Regel nicht einberufen. Bei den Wehrflüchtlingen könnte man sagen: Wärst du drüben nicht weggegangen, wärst du vorher herangezogen worden. Ich meine, daß die Leute hier nicht schlechter oder anders behandelt werden sollen als im übrigen Bundesgebiet.

Wie sieht es mit den von der NVA durchgeführten Musterungen aus?

Die Grundsatzentscheidung steht im Einigungsvertrag. Artikel 19 lautet: »Vor dem Wirksamwerden des Beitritts ergangene Verwaltungsakte« der DDR »bleiben wirksam. Sie können aufgehoben werden, wenn sie mit rechtsstaatlichen Grundsätzen oder mit den Regelungen dieses Vertrages unvereinbar sind.« Die ärztliche Untersuchung, die Musterung als solche, ist in allen Staaten so ziemlich dieselbe. Auch bei der NVA.

Was geschieht mit in Berlin lebenden Reservisten, die verweigern?

Für diese Kriegsdienstverweigerungen fehlen uns auch noch die entsprechenden Gremien. Wir betrieben »Organleihe« beim entsprechenden Ausschuß in Lüneburg, der die Zuständigkeit für Berlin übernommen hat. Das läuft erst an. Um mit Zwang an Reservisten heranzukommen, dafür gibt es noch keine Absicht oder Planung.

Können in Berlin oder Brandenburg lebende Reservisten, Wehrpflichtige oder Soldaten demnächst in der Türkei landen?

Nein. Niemand ist für diesen Fall ausgebildet. Sie können mit Reservisten der NVA nichts anfangen. Kein NVA-Pilot kann Bundeswehr-Flugzeuge bedienen. Das ist für die Öffentlichkeit sehr beruhigend.

Wann tritt die Bundeswehr in Berlin richtig öffentlich in Erscheinung?

Das kann ich Ihnen nicht sagen. Das Bemühen Berlins um den Regierungssitz führt dazu, daß viele Politiker sagen, es dürfe für Berlin keine Sonderregelungen mehr geben. Vorerst wird man ein Wachbataillon für den Bundespräsidenten brauchen.

Wie kommt es, daß Jugendliche, die die Bundeswehr befürworten, für sich selbst hoffen, nicht gezogen zu werden?

Das ist doch klar. Ich gehe nicht davon aus, daß jemand, der die Notwendigkeit der Bundeswehr einsieht, mit »Hurra« seiner Wehrpflicht nachkommt. Wir sind eine Eingriffsverwaltung. Wir leben nicht mehr im 19. Jahrhundert, wo man mit Freude in den Krieg gezogen ist. Ich habe Verständnis für jeden, der nicht gern hingeht. Es muß halt sein. Erstaune ich Sie?

Nein, beziehungsweise ja!

Das ist wie mit dem Jagdbombergeschwader aus Oldenburg. Ein Offizier hat gesagt, er würde einen Piloten, der gern in die Türkei fliegt, für verrückt halten. Zahlen Sie gern Steuern? Steuern sind eine Pflicht, die notwendig ist. So ist das mit dem Wehrdienst auch. Interview: Volker Michael