Nie mehr Jungfrauen an Kleiderhaken

■ Liz King und ihr Tanzabend „Ikarus meets Newton“

Zwei Luftgeister, in einem weißen Anzug steckend und blaß geschminkt, springen, und es sieht so aus, als könnten sie in der Luft verharren. Dann landen sie doch, und etwas später beginnt ihr Problem mit der eigenen Erdenschwere schon bei einer einfacheren Bewegung. Sie spüren ihrem Schritt nach und kommen an den Punkt, wo er sich aus der Schwerkraft verlieren könnte — die Luftgeister bleiben auf dem Boden. Aber wenn sie ihrem Schritt nachspüren, wird Tanz daraus.

Das Paar des Abends, Elizabeth Sykora und Alexander Peschko, ist in Blau gekleidet, in der Farbe, die den Tanzabend atmosphärisch bestimmt, auch wenn die Tänzerinnen und Tänzer ansonsten noch so bunte Kleider tragen. Das Paar könnte tanzen, als wenn die Liebe Flügel verleiht. Aber dann zeigen sie, daß die Liebe auch beschwerlich sein kann, weil Liebende immerzu fliegen wollen. Die Schwerkraft regiert, wo nur Luft und Liebe sein sollte, was Alexander Peschko in ein verzweifeltes Gehen auf der Stelle treibt. Es ist traurig und schön zugleich, und wenn Elizabeth Sykora wie ein Flügel sinnlos auf der Schulter ihres Partners flattert, ist das eines der eindrucksvollsten Bilder des Abends. Es fügt sich wie eine Zeitlupe in Liz Kings Choreographie ein, während die anderen Tänzerinnen und Tänzer kontrapunktisch Tempo machen.

Liz Kings jüngste Bewegungs- und Tanzcollage ist ein Abend der unverbundenen Gegensätze. Teilweise sieht es so aus, als würde behutsam nach tänzerischen Ausdrucksmitteln gesucht, während gleichzeitig virtuos die klassischen Versuche der Schwerkraftsüberwindung getanzt werden. Die Pirouette zum Beispiel, auf der Spitze und in der Luft. Gylis Komova ist eine energiegeladene Tänzerin in knallgelbem, kurzem Kleid, Carol Guidry ihr knallrotes Pendant. Zusammen wirbeln sie ihre Figuren auf die Bühne, als wollten sie durch die Bodenreibung Schub nach oben erzeugen. Ihr Treibstoff ist ein Streichquartett George Crumbs aus den 70er Jahren, Black Angels, ein düster- schriller Abgesang auf den Vietnamkrieg.

Auch die musikalische Folie des Abends ist wie der Tanz selbst unverbunden und gegensätzlich collagiert, reicht von einem Tallis-Quartett aus dem Tudor-England bis zu den Minimal-Reihungen Meredith Monks, von Torelli bis zu Rock-Rückkoppelungen — auf die reagieren die Tänzerinnen und Tänzer mit einer Hüpfpersiflage. Es pulsiert auf der Tanzbühne, Energiewellen verbreiten sich, die einzelnen Aktionen aber stehen für sich und sonst nichts. Sie konzentrieren sich auf ein Thema: die Erdenschwere und die immerwährende Mühe, sie überwinden zu wollen. Der Traum vom Fliegen und Ikarus' Sturz ins Meer ist eine Geschichte, die man sich davon erzählt.

Ein Jahr Arbeit an den tänzerischen Ausdrucksmitteln liegen jetzt hinter Liz King und dem neu formierten Heidelberger Ballett. Mit ihrem Debüt Gegeneinladung ist die Choreographin heute selbst nicht mehr so glücklich, sie hatte zu sehr mit der schweren Bürde des Erfolgsdruckes zu kämpfen. Im vergangenen Herbst brachte sie dann Heart's Reason heraus und machte klar, daß Heidelberg auch nach Johann Kresnik ein wichtiger Standort des zeitgenössischen Tanzes bleiben wird. Geschichtenerzählendes Tanztheater will Liz King allerdings nicht machen, dafür experimentiert sie eigenwillig mit tänzerischen Ausdrucksmitteln. Dazu gehört auch, daß sie die Sprache des klassischen Tanzes für ihre Art der Choreographie kommunizierbar macht und damit eine spezielle Atmosphäre erzeugt. Kältewellen gehen von der Tanzbühne aus, da die klassischen Figuren nicht mehr Teil etwa einer romantischen Geschichte sind, sondern aus dem Zusammenhang fallen.

Daß Liz King wieder in diese Richtung arbeitet, ist nicht selbstverständlich, denn sie war in Stuttgart Tänzerin unter John Cranko und an der Seite von John Neumeier — bis ihr der Tanz auf Spitzen und in Richtung Primaballerina Magenschmerzen bereitete. Damals räumte selbst Cranko ein, daß die Tänzerinnen im klassischen Ballett oft wie „Jungfrauen an Kleiderhaken“ daherkämen. Anfang der siebziger Jahre hängte Liz King den Kleiderhaken in den Schrank und ging zurück nach London, wo sie als Schülerin an der Royal Ballet School begann. Den ersten Schritt in Richtung Choreographin machte sie als Tanzlehrerin angehender Schauspieler, für die sie kleine Choreographien erfand. Liz King hat eine Affinität zum Schauspiel bewahrt und baut immer wieder solche Elemente in ihre Choreographien ein, obwohl sie betont, daß der Tanz eine Sprache für sich sei. Sie experimentiert, und man hat den Eindruck, daß die Sondierung dieses Terrains noch längere Zeit nicht abgeschlossen sein wird.

In Ikarus meets Newton spielt Hans Gubo, der ein allerdings hervorragend tanzender Schauspieler ist und in einer bodenakrobatischen Einlage seine Beine wie Propeller kreisen läßt. Dann bekommt er Treibstoffprobleme und wird in einen Redestrom getrieben, den er mit Propellerarmen kommentiert. Er ist ein witziges Zwitterwesen, halb Sprechmaschine, halb Tänzer. Dann kann es sich Liz King allerdings nicht verkneifen, ihn überflüssigerweise noch einmal als Handpropeller auftreten zu lassen.

Wie schon in Heart's Reason bricht ein Live-Piano in Liz Kings jüngste Choreographie ein und macht der High-Tech-Musikanlage des Theaters Konkurrenz. In Heart's Reason war das deshalb reizvoll, weil plötzlich einer der Tänzer zum Pianisten wurde. Dieses Mal kommt eigens eine Pianistin auf die Bühne, und irgendwann mag sich die Choreographin gedacht haben, daß die Pianistin mehr machen müßte, als den unvermeidlichen Satie zu spielen. Also steht sie lachend auf und mischt sich unter die Tänzer — spätestens jetzt wird es Zeit. Und wirklich. Nicht lange mehr, und der eiserne Vorhang hat das letzte Wort. Er stürzt herunter, und plötzlich weiß man wieder, was Schwerkraft ist. Jürgen Berger

Ikarus meets Newton. Choreographie: Liz King. Bühne/Licht/Musik: Manfred Biskup. Klavier: Grazyna Asam. Theater Heidelberg. Weitere Vorstellungen am 9., 21. und 28.2.