Der schmale Pfad zu König Garri

■ Im Achtelfinale der Kandidaten beschreiten Robert Hübner und Jan Timman den Weg zur Schachkrone Nach vier Partien führt der Niederländer 2:1, aber der Solinger flüchtet nicht wie vor zehn Jahren

Berlin (taz) — „Was hat uns dieser Mann geschadet? Was erlebte Deutschland für eine Schachbegeisterung, wenn Hübner ein bißchen mitgespielt hätte?“ — So jammern deutsche Schachfunktionäre noch nach einem Jahrzehnt, nachdem der Solinger Robert Hübner im Kandidatenfinale gegen Viktor Kortschnoi greifbar nahe am Einzug in den Zweikampf um die Schachkrone scheiterte. Aber der promovierte Altphilologe mochte das Spielchen nicht. Mehr als ein Dutzend Sprachen spricht er fließend, die Sprache der Journalisten hat er nie verstanden. Der da „einiges über Verrücktheiten der Pressevertreter“ erzählen könnte, wurde von manchem Schreiberling gar selbst für verrückt erklärt.

Seit mehr als zwei Dekaden ist er in der deutschen Schachszene eine Klasse für sich, aber seichte Interviews und flimmernde Kameras hat er immer gehaßt. Pressekonferenzen sind ihm ein Greuel, so muß er immer wieder zitiert werden, daß er mit 500 Mark im Monat auskomme, auch als das für den Besitzer eines großen Mietshauses längst nicht mehr zutraf.

Seine Flucht vor der Öffentlichkeit wurde oft mit Bobby Fischer verglichen, der nach der Thronbesteigung 1972 nicht mehr ans Turnierbrett zurückkehrte. Binnen kurzem, nachdem Robert seinen Beruf als Papyrologe aufgegeben hatte, wurde er die Nummer Drei in der Welt. Den Traum, Deutschlands Bobby zu werden, überließ er den Fans. „Es wäre mir sogar etwas lieber, wenn ich nicht Weltmeister würde“, sagte er immer wieder und stieß auf Unverständnis.

Zu wenig konnte man anfangen mit dem hehren Ziel, perfektes Schach zu spielen, und das hat laut Hübner auch noch wenig mit Ästhetik und spektakulären Opfern zu tun. Geschockt war die Schachszene, als er 1981 seinen ausgeglichen stehenden Wettkampf gegen Kortschnoi um das Recht, Weltmeister Anatoli Karpow fordern zu dürfen, vorzeitig aufgab. Zwei Jahre später erklärte Hübner sogar, er wolle sich nicht mehr an WM-Qualifikationen beteiligen.

Er hat sein Wort gebrochen. Rechtzeitig zum Interzonenturnier in Manila vor einem halben Jahr kam er in Form und eroberte einen Platz im Kandidaten-Achtelfinale. In Sarajewo steht ihm nun ein Altbekannter gegenüber. Jan Timman, Jahrgang 51, und der drei Jahre ältere Hübner haben sich schon Dutzende Male am Brett gegenüber gesessen. Und die Biographie des Amsterdamers weist eine Reihe Parallelen auf.

Auch Timman ist in den Niederlanden unangefochtener Spitzenspieler, seit langem zählt er zu den wenigen westlichen Ausnahmegroßmeistern, die den Vertretern der sowjetischen Schachschule etwas entgegensetzen können. Noch vor einem Jahr war er selbst die Nummer drei hinter K und K. Aber sein Sturz nach der Niederlage im Kandidatenfinale 1990 gegen Karpow war tief. Ein schwaches Resultat nach dem anderen, und der 39jährige kann von Glück reden, daß er dank der Freikarte als Finalist nicht durch die Hitzeschlacht von Manila mußte.

Aber kein niederländischer Journalist würde es je wagen, ihn als Eremit und Kostverächter zu verunglimpfen. Sein Buch Het smalle Pad (Der schmale Pfad) ist nicht nur unter Schachenthusiasten ein Bestseller. Und mehr als ein halbes Jahrhundert, nachdem der Amsterdamer Mathematikprofessor Max Euwe 1935 bis 1937 den Schacholymp ins flache Land holte, hat Lebenskünstler Jan einen zweiten Boom entfacht. Er spielt das Spielchen nämlich mit und läßt sich als Medienstar herumreichen. So ist Schach im Nachbarland heute fast ein Volkssport.

Das Spiel darf auch mal zur besten Sendezeit auf den Fernsehschirm, und alle großen niederländischen Tageszeitungen haben einen Schachredakteur. Im Pressezentrum von Sarajewo trifft sich die Konkurrenz, aber kein Kollege aus deutschen Landen. Und daß der Zweikampf nicht in den Niederlanden stattfindet, ist wohl nur aus Rücksichtnahme auf das gleichzeitig im Nordseebad Wijk aan Zee laufende Großmeisterturnier, wo zwei weitere Achtelfinal- Begegnungen laufen, kein Betriebsunfall.

Aber auch der „Doc“ muß sich in der bosnischen Hauptstadt nicht verloren vorkommen. Mit dem Arzt und Zweitligaspieler Eugen Kurz hat er vor allem einen guten Freund als Sekundanten gewählt. Zur Vorbereitung trainierte er zu Hause in Solingen und in München, wo er für Meister Bayern am ersten Bundesligabrett spielt, zwei Wochen mit Artur Jussupow, der Timman vor fünf Jahren aus dem WM-Rennen geworfen hatte.

In der ersten Wettkampfhälfte — es geht über acht Partien oder bis ein Spieler 4,5 Punkte erbeutet hat — haben die Tips aus Moskau noch wenig gefruchtet. Nach zwei ausgekämpften Remispartien, wurde Jan in der dritten Runde seinem Ruf als woman-hunter (so ein US-Schachmagazin) gerecht. Er luchste Robert die Dame ab und gewann.

Am Montag abend hatte der Solinger gute Chancen zurückzuschlagen, aber Timman verteidigte sich richtig. Im Endspiel ließ er lieber ein Bäuerchen sterben, als sich passiv zu verteidigen. Und beim Abbruch sah es so aus, als ob der deutsche Großmeister auch mit zwei Landwirten mehr nicht mehr den ganzen Punkt ernten könnte. So muß sich Hübner in den verbleibenden vier Partien etwas einfallen lassen, will er auf dem schmalen Pfad zu Kasparow bleiben. Die allerbesten Chancen, nicht in einer Sackgasse unterwegs zu sein, hat — und wie könnte es jemals wieder eine WM ohne ihn geben — der für das Viertelfinale vorberechtigte Vize Karpow. Stefan Löffler