„So kann man Kinder terrorisieren“

Amerikanische Psychologen glauben, daß die Friedensbewegung bei Kindern Ängste vor atomaren Gefahren schürt/ Angst als Zeichen psychischer Instabilität?/ Berliner Wissenschaftler untersuchten „coping“-Strategien bei Kindern und Jugendlichen  ■ Von Michael Macpherson

„Es ist ein moralischer Skandal und eine intellektuelle Schande, daß Gelehrte und Hochschulen, generelle menschliche Probleme des atomaren Zeitalters vernachlässigt haben“, erklärte der amerikanische Psychohistoriker Robert Jay Lifton 1982. In der Tat spielen Fachtermini wie human dimensions of global change (menschliche Dimensionen von globalen Prozessen), makrosozialer Streß (Ängste im großgesellschaftlichen Bereich), coping (Bewältigung), Gesundheit und Verhalten in der Analyse und Forschung aller Fachgebiete an Universitäten kaum eine Rolle.

In der Gesellschaft halten sich folgende Denkmodelle: Weil die nukleare Abschreckung 50 Jahre Frieden garantiert hat, brauchte keiner Angst vor dem Krieg zu haben. Die Errungenschaften der Industrie sind so gewaltig, daß die Einflüsse auf die Umwelt unbedeutend sind. Negative Gefühle im makrosozialen Bereich gelten als Zeichen einer psychischen Instabilität. Kinder haben keine Angst, aber sie können durch Eltern und Lehrer vor allem aus dem linken Spektrum und der mittleren Schicht beeinflußt werden. Das Informieren über internationale Konflikte, nukleare Fortschritte oder negative Umwelttrends können Angst und Furcht hervorrufen oder bestehende Ängste verschlimmern. „So kann man Kinder terrorisieren“, folgern die amerikanischen Psychologen Adelson und Finn.

Während die Wellen sozialer Bewegungen Anfang der Sechziger und Ende der Siebziger auf die atomare Gefahr hinwiesen, begannen auch einige Wissenschaftler in verschiedenen Ländern die menschlichen Dimensionen der Bedrohung durch Nuklearkriege und Umweltkatastrophen zu untersuchen.

Kinder haben am meisten Angst vor Krieg

Die Frage, ob Kinder Angst vor einem Atomkrieg oder makrosozialen Problemen hatten, wurde dabei ebenso betrachtet. In einer von der Weltgesundheitsorganisation in Auftrag gegebenen Studie wurden etwa 600 Kinder zwischen 11 und 15 Jahren in jeweils drei Ländern (Winter 1983/84) unter anderem mit der Frage konfrontiert: Wenn du an die Zukunft denkst, was sind deine drei größten Ängste? Vor Krieg hatten in Österreich 31 Prozent, (vor Arbeitslosigkeit 31 Prozent); in England 33 Prozent, (59 Prozent); in Finnland 78 Prozent, (31 Prozent) Angst.

In einer Studie des Bundesgesundheitsamtes (BGA), erstellt von Klaus Boehnke, Michael Macpherson, Margarete Meador und Horst Petri mit 540 Schulkindern in Bayern, wurde die Kriegsangst mit 56 Prozent am häufigsten genannt. Danach folgte die eigene Gesundheit mit 44 Prozent sowie die Angst vor Arbeitslosigkeit mit 22 Prozent. Auf die Frage, ob die Kinder ein starkes Gefühl von Angst oder Furcht erfahren haben, bejahen 10 Prozent in Kanada, 25 Prozent in Finnland und über 30 Prozent in der BRD. Alpträume über Atomkrieg sind dabei nicht selten. Inzwischen wurden diese Ergebnisse auch von vielen anderen Ländern bestätigt, darunter auch in der Sowjetunion, Nikaragua und Kolumbien.

Die Behauptung, daß die Angst vor nuklearer Bedrohung ein Zeichen psychischer Instabilität sei, konnte in der Untersuchung des BGA nicht bestätigt werden. Äußerungen von makrosozialer Angst, einschließlich Angst vor einem Atomkrieg korrelierten nicht mit einer „Ängstlichkeits-Skala“, die von Peter Hofstädter entwickelte wurde, der die Forschung über makrosozialen Streß (siehe Kinder und Angst, 'Die Welt‘ vom 15. 11. 1985) kritisiert. Außerdem fanden die Wissenschaftler heraus, daß jene Kinder, die höhere makrosoziale Ängste angeben, weniger emotionale und psychosomatische Beschwerden haben. Daraus ließe sich folgern, daß sogar die Bereitschaft, Angst vor Atomkriegen auszudrücken, einen Schutzeffekt für die seelische Gesundheit darstellt.

Die Forschungsergebnisse unterstützen nicht die Behauptung, Kriegsangst sei vorwiegend in der mittleren Schicht zu finden. In Finnland zeigten die Kinder aller sozialen Klassen Angst. In England gab es ebenfalls keinen Unterschied in dem Ausmaß von Kriegsangst, aber die Kinder der unteren Schichten glaubten weniger, für die Verhinderung eines Krieges etwas tun zu können.

Die Berliner Wissenschaftler Klaus Boehnke, Egbert von Fromberg, Michael Macpherson, Margarete Meador und Horst Petri untersuchten auch Wechselbeziehungen zwischen coping-Strategien bei atomarer Bedrohung, Wissen über internationale Beziehungen und Atomwaffen, sozio-politisches Verhalten sowie Angst. Es wurde differenziert zwischen persönlichen Ängsten, wie Nichtgemochtwerden, schlechte Schulnoten, eigene Gesundheit sowie politischen Ängste, wie Atomkraft, Hunger in der Welt, Umweltprobleme. 1985 wurden an 3.499 Probanden zwischen 8 und 20 Jahren in West-Berlin und dem Bundesgebiet Fragebögen verschickt. Jene Probanden, die besser informiert waren, hatten durchschnittlich nicht mehr persönliche und politische Ängste. Sie verleugneten weniger, auch einmal über Atomwaffen nachzudenken. Sie möchten sogar mehr über Atomwaffen wissen. Diese besser Informierten zeigten sich skeptischer gegenüber der Politik der atomaren Abschreckung. Sie rückten weniger persönliche Probleme in den Vordergrund. Mädchen waren schlechter informiert und offenbarten höhere persönliche und politische Ängste.

Wenn die Befragten oder ihre Eltern an einer Aktion der Friedensbewegung teilgenommen hatten, verleugneten sie weniger die Gefahr und zeigten weniger persönliche „ungesunde“ Ängste. Diejenigen, die sich in der Friedensbewegung engagiert hatten, konnten besser mit der atomaren Bedrohung umgehen.

Friedensbewegung und psychische Stabilität

In den USA wurden dazu pädagogische Untersuchungen, wie Kurse, Filme, Bücher über internationale Beziehungen, Atomwaffen usw., durchgeführt, die weder Furcht noch Panik hervorriefen. Im Gegenteil, das Selbstbewußtsein, sich im gesellschaftspolitischen Rahmen zu engagieren, wuchs.

Atomare Arsenale und gefährliche Umwelttrends als reale Bedrohung zu empfinden und sich darüber zu äußern, ist bei Erwachsenen und Kindern normal. Kinder und Jugendliche drücken ihre Ängste aus und einige haben besonders starke Ängste. Das ist weltweit gleich und empirisch zuverlässig bewiesen. Aber es gibt keine Beweise, daß Kinder und Jugendliche, die ihre Ängste ausdrücken, psychisch instabil seien. Trotzdem kann eine Dauerbedrohung die Entwicklung des Kindes negativ beeinflussen und der seelischen sowie gesundheitlichen Verfassung auch von Erwachsenen schaden. Kriegsängste zeigen sich nicht nur bei Kindern aus der Mittelschicht. Schlechter über die atomare Bedrohung informiert zu sein, korreliert mit der psychischen („ungesunden“) Abwehr von makrosozialem Streß.

Wenn Erwachsene den Kindern helfen mit ihren angemessenen Ängsten umzugehen, dann werden die Kinder nicht „terrorisiert“, wie Adelson und Finn feststellten. Forschungsergebnisse belegen, daß Kommunikation mit jungen Leuten über die Quelle ihrer Angst auch makrosoziale Ängste verringern kann. Zu Hause und im Klassenzimmer sollte ihnen geholfen werden, positive coping-Strategien zu entwickeln, weil sie wichtige soziale Fähigkeiten fördern und sogar die psychische Gesundheit schützen können.

Der Autor ist Arzt und Lehrbeauftragter an der FU Berlin sowie Mitautor des Buches „Leben unter atomarer Bedrohung — Ergebnisse internationaler psychologischer Forschung“, Asanger-Verlag Heidelberg, 1989.