„Pinochet könnte Pate stehen“

■ Leonid Gossman, Mitglied der „Moskauer Tribüne“, über Gorbatschow, die Nomenklatura und die Zukunft der Sowjetunion INTERVIEW

Die „Moskauer Tribüne“ ist ein Forum demokratischer Kräfte, dem auch Andrej Sacharow bis zu seinem Tode angehörte. Leonid Gossmann arbeitet als Psychologe an der Moskauer Universität.

taz: Der Reformkurs wird zurückgeschraubt, hier und da sterben Menschen unter den Salven heißgemachter Spezialtruppen, und die Regierung schickt sich an, das Land mit Hilfe der repressiven Staatsapparate aus der Krise zu führen. Reicht das der radikalen Opposition noch nicht, um sich zusammenzuraufen und dem Paroli zu bieten?

Leonid Gossman: Weite Kreise der Demokraten und der Intelligenz sind in der russischen Tradition verhaftet. Statt die eigenen Interessen und die sozialer Gruppen zu formulieren, suchen sie nach allgemeingültigen, übergeordneten Interessen. Das geben sie zumindest vor. Sie wollen die Probleme aller unserer Völker lösen. Nach dem eigenen Wohl zu streben, gilt auch heute noch als anrüchig. Ich sage das deswegen, weil die Interessen sozialer Gruppen die Grundlage eines pluralistischen Parteiensystems bilden. Politische Parteien sind bei uns aber bisher Mythos. Der Opposition fehlt gerade jetzt die erforderliche straffe Organisation. Politische Parteien stiften auch Identität, die bei uns solange der Glaube an das Gute im sowjetischen Imperium ausgefüllt hat. Wenn man nicht an den Kommunismus geglaubt hat, so doch an diese Fiktion der „Gutartigkeit“ unseres Großreiches.

Die demokratische Opposition scheint heute gelähmt. Es war Gorbatschow, der ihr die Freiheiten gegeben hat. Sie selbst hat nichts dazu beigetragen, und nun wird es ihr von oben wieder weggenommen. Ergebenheit gegenüber dem guten wie dem bösen Zaren?

Es gab zwei Gruppen, die von der Perestroika profitiert haben. Die Intellektuellen, die auf einmal offen schimpfen konnten, und die neuen Kapitalisten. Dazu gehören etwas clevere Parteifunktionäre, Ingenieure etwa, die irgend etwas entwickelt haben, und Händler. Alle anderen sind leer ausgegangen. In Rußland, nicht in den anderen Republiken, wird ein großer Teil der Bevölkerung daher auch eine starke Hand begrüßen. Sie wurden mit Versprechen abgespeist. Die neuen Kapitalisten aber — davor habe ich Angst — könnten sich arrangieren mit einer Diktatur, vorausgesetzt, sie würde ihnen längerfristig ökonomische Stabilität garantieren. Pinochets Chile könnte dabei Pate stehen.

Obwohl tagtäglich im Land der Teufel los ist, verändert sich scheinbar nichts. Im weiter gespannten historischen Kontext sind selbst die Schüsse im Baltikum vernachlässigbar. Oben geschieht nichts, aber ebensowenig kommt von unten. Eine unheimliche Paralyse...

Ja. Aber man darf nicht den Fehler machen und unsere politische Schicht für kluge Strategen halten. Der Westen überschätzt sie total. Im Falle des Baltikums zeigt es sich ganz deutlich. Unsere Nomenklatura ist einer Projektion erlegen. Sie ist durch die Bank mit einer Menge nationaler und rassistischer Vorurteile beladen. Und diese hat sie auf die einfachen Leute bei uns projiziert. Sie unterschätzen einfach den massiven Haß auf die Kommunisten. Mit aller Kraft haben sie versucht, den Konflikt in einen völkischen umzumünzen. Doch die Leute haben begriffen, worum es sich handelt. Um den Kampf zwischen Kommunisten und denen, die gegen sie sind.

Hat Gorbatschow mit seinem Verhalten in den letzten Monaten bewiesen, daß er dem kommunistischen Wertekanon verhaftet geblieben ist? Das, was er angestoßen hat, vielleicht so gar nicht wollte? Oder handelt es sich um eine persönliche Tragödie?

Ich bin dagegen, Gorbatschow alle Verdienste jetzt abzusprechen und ihm womöglich den Nobelpreis abzuerkennen. Ich bin ihm dankbar für die Freigabe Osteuropas und die Veränderung der globalen Politik. Als er 1985 antrat, hatte er die Wahl zwischen zwei Wegen. Ein neuer Stalin oder ein „richtiger“ Präsident zu werden wie Ronald Reagan damals. Er entschied sich für letzteren. Danach haben sich eine Menge persönlicher Tragödien ereignet, die etwas mit seiner Persönlichkeitsstruktur zu tun haben. Er hatte auch kein brauchbares Programm 1985. Aber das erwies sich gerade als gut. Immer dann in unserer jüngsten Geschichte, wenn die Regierung kein klares Programm hatte, war das Leben lebenswert. Während der Neuen Ökonomischen Politik (1921-1918), nach 1956 unter Chruschtschow...

...das heißt, der neue Premierminister Pawlow, der sich seiner Geldreform rühmt, läßt nur Böses erwarten...

Ja, jedesmal, wenn eine Regierung bei uns einem Plan folgte, baute sie Gefängnisse. Und Pawlows Reform ist doch grauenvoll. Mir war Ryschkow da lieber, der jede Woche im Fernsehen geweint hat, wie schwierig es nur sei, Premier zu sein — „Warum mögt ihr mich nicht?“. Das einzige, was dieser Staat machen kann, ist, sich zurückzuziehen. Die Menschen sind müde und vor allem enttäuscht über die Demokraten. Die Demokraten, die ich gewählt habe, ließen ein ganzes Jahr verstreichen. Sie haben nichts getan, auf keinem Gebiet, nicht einmal symbolisch. Viele Leute glauben an charismatische Figuren wie Jelzin, Sobtschak, Popow oder Stankjewitsch. Aber auch das ist nicht unbedingt von Dauer. Auch sie können Gorbatschows Schicksal erleiden.

Welche Konsequenzen wird es haben, daß Jelzin die Baltikum-Resolution im russischen Parlament nicht durchgebracht hat?

Verheerend, ein Desaster. Es wird heißen, Jelzin hat nicht einmal Einfluß auf das Parlament. Lenin und die Bolschewiken hatten begriffen, daß es ohne Organisation nicht läuft. Unsere Demokraten verstehen darunter lediglich die Chefetagen. Eine 30 Leute starke Partei hat ein 16köpfiges Zentralkomitee. Das ist doch schon wieder lustig.

Was steckt hinter der Geldreform, ist sie nicht unsinnig?

Eine Möglichkeit wäre, daß man die Lage bewußt destabilisieren will, um in Rußland einzugreifen...

Entspricht das Gorbatschows Denken?

Ich glaube, Gorbatschow meint, die Regierung könnte den sozialen Niedergang aufhalten. Und als Kommunist glaubt er an die Heilkraft einer starken Hand. Wie die Reform vermittelt wurde, läßt ein paar Schlüsse zu. In den Nachrichten wurde nichts erklärt, obwohl es möglich gewesen wäre. Keiner hat irgend etwas Genaueres verstanden. Eine Stunde später im Rundfunk war überhaupt nicht mehr die Rede davon. Für mich heißt das, sie wollten Panik und Streß erzeugen. Verstörung ist beabsichtigt. Die Leute fühlten sich erniedrigt.

Wie wird der Kampf zwischen Gorbatschow, dem Zentrum und Jelzin als Vertreter der Russischen Föderation ausgehen?

Drei Szenarien sind denkbar. Das erste: Jelzin muß Federn lassen. Leute werden von seiner Seite weichen. Das gibt ihm die Chance zu einem Neubeginn, und er wird wieder die unbestritten emotionale Leitfigur sein. Die Demokraten verlassen die Stätten ihrer symbolischen Macht und wenden sich wieder den Menschen zu. Ein zweites Szenario wäre der Bürgerkrieg. Der entsteht, wenn sich die Armee noch weiter entzweien läßt. Hat das Zentrum wirklich genügend eigene Truppen? Vielleicht existiert diese Armee gar nicht? In Tbilissi und Aserbaidschan waren es doch dieselben Truppen. Und im Baltikum haben sie im Grunde auch einen Fehlschlag erlitten, weil sie schwach sind. Das Zentrum spielt va banque. Die letzte Verordnung, das Militär auf Patrouille in den Städten zu schicken, kann genausogut Bluff sein. Einer Diktatur fehlt alles, um das Land wirklich zu regieren. Die Gefahr liegt allerdings darin, daß sie einen dritten Weltkrieg beginnen könnten oder eine ökologische Katastrophe verursachen.

Und die dritte Variante? Ein Pyrrhussieg Jelzins?

Genau. Jelzin und die Demokraten gewinnen das Spiel, und dann fangen die Pobleme erst richtig an. Sie haben die demokratischen Prozeduren intus, aber in ihrer mentalen Struktur hat sich nicht viel verändert... Interview: Klaus-Helge Donath, Moskau