Wie Präsident Gorbatschow am Golf gescheitert ist

■ Der ruhmlose Rückzug der Sowjetunion von ihrer aktiven Rolle im Nahen Osten/ Primat der Innenpolitik: Das Imperium soll zusammengehalten werden

Die Verschiebung des Gipfeltreffens Bush-Gorbatschow auf einen unbestimmten Zeitpunkt ist ein niederdrückendes Symptom für den Rückzug der Sowjetunion aus jeder möglichen Verhandlungslösung am Golf. Es ist das trostlose Ende einer Initiative, die einmal angetreten war, aus der UNO ein Instrument für die weltweite Durchsetzung der Völkerrechtsprinzipien zu machen. Ausdrücklich hatte Gorbatschow bereits in der zweiten Hälfte der 80er Jahre vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen von der Interdependenz aller nationalen bzw. regionalen Probleme und von den gemeinsamen Aufgaben der Weltgesellschaft gesprochen. Und daraus wiederum hatte er die Berechtigung einer — freilich reformierten — UNO abgeleitet, auch mit den Mitteln der Gewalt „rule of law“ durchzusetzen.

Als Saddam Kuwait besetzte, verwies daher die sowjetische Politik auf die in der UNO vorgesehenen Gremien der Streitschlichtung einschließlich der Stabsstelle beim Sicherheitsrat, die zu einer Planungs- und Koordinierungsinstanz für eine militärische Intervention als ultima ratio ausgebaut werden sollte.

Allerdings stellte sich schon während des Herbstes heraus, daß es in der sowjetischen Führung unterschiedliche Schattierungen der Golf- Politik gab, die letztlich auf verschiedenen Konzeptionen beruhten. Edward Schewardnadse schätzte von vorneherein die Chancen einer friedlichen Lösung der Kuwait-Frage als sehr gering ein. Hieraus zog er den Schluß, die Sowjetunion müsse am Golf massiv präsent sein — als Gegengewicht zu den USA — und eine mögliche Beteiligung an einer UNO- Streitmacht ins Auge fassen. Gleichzeitig aber sei es Aufgabe der sowjetischen Politik, sich für eine umfassende Lösung der Probleme in der Nahostregion einzusetzen. Schewardnadse ging also von einem „linkage“ zwischen Golf-Krise und dem ungelösten Israel-Palästinenser-Problems aus.

Im Gegensatz zu Schewardnadse setzte Gorbatschow große Hoffnungen in den Versuch der sowjetischen Diplomatie, Saddam auf friedlichem Wege zum Rückzug zu überreden und so das Problem einzugrenzen. Während sein Außenminister den Einsatz bewaffneter Gewalt nur als „unerwünscht“ bezeichnete, charakterisierte Gorbatschow ihn als „unakzeptabel“, eine Formulierung, von der er sich jedoch später zurückzog. Ausschlaggebend für Gorbatschows Umorientierung war das Scheitern der beiden Missionen seines Sonderbeauftragten für den Nahen Osten, Iwgenii Primakows, in den Irak, die nur als Konkurrenzunternehmen zur Politik Schewardnadses begriffen werden können.

Gorbatschows Kehrtwende

Saddam suggerierte Primakow zunächst Verhandlungsbereitschaft, um sie dann um so nachhaltiger zu dementieren. Was immer Perimakows ursprüngliche Zuversicht begründet haben mag — den Fehlschlag seiner Mission erklärte er in der 'Literaturnaja Gazeta‘ mit der festen Überzeugung Saddams, daß der Irak ohnehin Opfer militärischer und/ oder ökonomischer Aggression werde, ob er sich nun aus Kuwait zurückziehe oder nicht. Zu diesem Zeitpunkt faßte Gorbatschow den Entschluß, einer UNO-Sicherheitsrats- Resolution über Gewaltanwendung gegen den Irak keine Hindernisse in den Weg zu legen, sich aber gleichzeitig als handlungsfähige Kraft aus dem Konflikt zurückzuziehen.

Diese Forderung war schon vorher von Vertretern der Militärs im Obersten Sowjet und von Sprechern der Konservativen „Sojus“-Gruppe erhoben worden. Als Hauptargumente wurden vorgebracht, daß die Sowjetunion, langjähriger Freund der Araber und des Irak, nicht einfach „die Pferde wechseln könne“, daß es die SU und nicht die USA sei, die in Reichweite der irakischen Raketen liege, daß die mühsam erreichte Stabilität in den moslemischen Republiken der SU nicht durch eine fundamentalistische Agitation erschüttert werden dürfe und schließlich, last not least: daß die afghanische Wunde noch offen sei.

Die Entscheidung Gorbatschows, die Anwendung von Gewalt gegen Saddam zu billigen und gleichzeitig das Terrain zu räumen, hat der sowjetischen Nahost-Politik gleich drei Schläge versetzt: das Band des Dialogs mit Saddam Hussein ist zerrissen, die von der Sowjetunion stets favorisierte „arabische Lösung“ ist — schon wegen der massiven Truppenkonzentration der USA am Golf — in weite Ferne gerückt, und eine Nahost-Friedenskonferenz, für die Israel zu gewinnen Eduard Schewardnadse nicht müde geworden war, ist unwahrscheinlicher geworden denn je. Wer aber, wenn nicht die Sowjetunion, hätte die Fähigkeit gehabt, den fatalen Gang der Ereignisse zu beeinflussen?

Die gegenwärtige Außenpolitik der Sowjetunion ist nichts anderes als Reflex der Innenpolitik, nichts als der Versuch, das Imperium SU mit allen Mitteln zusammenzuhalten. Wo sich eine diplomatische „Wende der Wegzeichen“ im Nahen Osten ergibt, wie gegenüber den Saudis oder dem Iran, gehorcht sie unmittelbaren Sicherheitsinteressen und dem Wunsch nach Krediten, nicht aber einem Plan, der der Region Frieden bringen könnte.

Nicht einmal die diversen Provokationen und blutigen Attacken, mit denen die sowjetische Zentrale „im Windschatten“ des Golfkriegs die baltischen Unabhängigkeitsbewegungen kleinkriegen will, folgen einer durchdachten Strategie. Ihre „Spontaneität“ hat aber überall zur Folge, daß die Bereitschaft zu zivilen Konfliktlösungen geschwächt wird und überkommene militärisch-polizeiliche Kontrollmechanismen wieder in Kraft gesetzt werden. Von den jüngsten Beschlüssen, dem KGB unbeschränktes Einsichtsrecht in Geschäftsbücher zu geben, bis zu den künftigen gemischten Streifen von Polizei und Armee — überall dringt der Schlick des Polizeistaats vor.

Zukünftige Geschichtsforschung wird uns darüber belehren, ob es eine ausdrückliche oder — was wahrscheinlicher ist — stillschweigende Abrede zwischen Bush und Gorbatschow gegeben hat, beim Golf beziehungsweise bei den sowjetischen Verhältnissen dem jeweils anderen freie Hand zu lassen. Wichtiger als das Urteil über diese Frage erscheint die bittere Einsicht, daß der Rückzug der Sowjetunion vom Golf, daß das Wegwerfen einer authentischen UNO-Lösung überall in der Welt die Bereitschaft mindern wird, die UNO noch als Friedensinstrument anzuerkennen. Christian Semler