Monumentales Pamphlet

■ Zu Goworuchins Film

Vergewaltige kleine Mädchen, ein Elternmörder, Polizeiaufnahmen von bestialisch mißhandelten Leichen, weinende Frauen an Gräbern von Kriminalitätsopfern. Hektisch dazwischengeschnitten Aufnahmen von jugendlichen Mördern, die sich keines Unrechts bewußt sind. Schließlich die Ziege aus der „Datscha Nummer acht“; Halbstarke haben sie „entführt, vergewaltigt, ermordet“.

Mit solcherlei dokumentarischem „Material“ beginnt Stanislaw Goworuchin seinen Film So kann man nicht leben.. Brutale Horrorbilder aus der Perestroika- Sowjetunion von 1989/90, mit denen der Filmemacher seinem Publikum von Anfang an autoritär einheizt. Nach der simplen Rezeptur von billigem Boulevardjournalismus: Wohliges Schaudern, Voyeurismus, Haß und Mitleid sollen den Zuschauer aufputschen. Was man zu denken hat, erfährt das Publikum von Goworuchin und seinem deutschen Kommentator Maximilian Schell aus dem Off: Der sowjetische Mensch an sich hat sämtliche Werte verloren. Hoffnungslosigkeit bedingt Asozialität und Verrohung.

So kann man nicht leben — ist ein verfilmter „Brief an den Obersten Sowjet“ (Untertitel), der in der Sowjetunion wegen seiner plakativen, erschütternden Machart ein Riesenerfolg wurde. Eine Erklärung dafür ist die gnadenlose Abrechung mit dem Kommunismus — nicht nur mit den stalinistischen Verbrechen, sondern mit der reinen Lehre überhaupt. Die Demütigung des Menschen — und dies über mehrere Generationen — ist ein Schlüsselbegriff in Goworuchins düster-pathetischem Monumentalgemälde, kreuz und quer durch das Riesenreich, vor und zurück durch alle Epochen von 1917 bis heute — die Beispiele dafür, wie ein Staatssystem seine Bürger belügt, unterdrückt, in ihrer Würde beleidigt, sind in diesem Film gar nicht mehr zu zählen. Schrecklichgrotesk etwa der Versuch, als UdSSR-Bürger ein Hotelzimmer zu bekommen; furchtbar das demütigende, stundenlange Schlangestehen von Zehntausenden für ein, zwei Flaschen Wodka. Verletzungen über Verletzungen, die ein Staat seinen Bürgern zufügt. Bis jene, völlig gefühllos geworden, schließlich ganz ohne Glauben, Perspektive und Humanität dahin -leben — und so auch ihre Kinder erziehen. Die Perestroika, bilanziert der Filmemacher, dauerte mindestens 100 Jahre, wenn man damit auch den Rückbau des Menschen zum Menschen meint. Einzig Bilder von der Erneuerung der orthodoxen Kirche spenden Hoffnung.

So kann man nicht leben schafft es trotz oder gerade wegen seiner schrecklichen Bilderflut nicht, den Zuschauer gänzlich von seiner Botschaft einzunehmen. Zu durchsichtig ist die pseudo-dokumentarische Einseitigkeit, zu bekannt die Verklärung der guten alten Zeit, der großen russischen Kultur, der sittlichen Kraft der Kirche. Goworuchins monumentales Pamphlet verklärt zudem den Westen und verdammt zugleich Zivilisationserscheinungen wie Rohheit, Alkoholismus und Massenkriminalität, die alles andere als ausschließlich kommunistisch sind. Zunehmend wittert der aufmerksame Zuschauer hinter dem missionarischen Eifer des Ideologiehassers bereits neue, prüde Sauberkeits- ideologien.

Und dennoch reicht all diese Kritik an Goworuchins antikommunistischer Passion nicht aus, um den Film in Bausch und Bogen zu verdammen. Die Bilder sind zu erschütternd. Ein schlechter Film — und dennoch ein atemberaubendes Dokument. (Siehe auch taz Berlin vom 17.1.) Thomas Kuppinger

Stanislaw Goworuchin: „So kann man nicht leben“, UdSSR 1990