Notstandsgesetz macht über Nacht Soldaten

Im „Bündnisfall“ hat eine Kriegsdienstverweigerung, wie sie ehemalige Wehrdienstleistende überlegen, keine aufschiebende Wirkung  ■ Aus Bremen Dirk Asendorpf

Noch wälzen mehrere tausend Soldaten des „Hanseatischen Heimatschutzregiments“ Akten, fahren Gabelstapler oder reparieren Waschmaschinen. Aber über Nacht könnten aus ganz normalen Bürgern Bundeswehrsoldaten mit besonderem Auftrag im Inland werden. In ganz Deutschland würden die „Heimatschutzregimenter“ auf Flughäfen und Bahnhöfen, vor Rüstungsfirmen, Verwaltungshochhäusern und an Straßenkreuzungen aufmarschieren und für „innere Sicherheit“ sorgen. Juristische Grundlage dafür: die Notstandsgesetze.

Notstandsgesetze auch im Spannungsfall möglich

Denn die vieldiskutierte Frage, ob ein Angriff des Irak auf die Türkei ein Nato-Bündnisfall wäre oder nicht, hat nicht nur mit dem Einsatz der Bundeswehr in der Türkei zu tun. Nach Artikel 80a Abs.3 des Grundgesetzes kann die Bundesregierung im „Bündnisfall“ auch den „Spannungsfall“ ausrufen und damit große Teile der 1968 beschlossenen Notstandsgesetze erstmals in Kraft setzen. Nur eine Mehrheit im Bundestag könnte sie daran hindern.

Die Folgen für den bundesdeutschen Alltag wären einschneidend — und nicht nur für die Reservisten der „Heimatschutzregimenter“. Eine Kriegsdienstverweigerung, wie sie zur Zeit überall in Deutschland von Tausenden ehemaliger Wehrdienstleistender überlegt wird, hätte keine aufschiebende Wirkung mehr. „Für das Hanseatische Heimatschutzregiment haben wir keine Nachwuchssorgen“, sagt zwar heute noch der stellvertretende Kommandeur des Bremer Verteidigungs-Bezirkskommandos, Manfred Bubke. Wie aber im „Spannungsfall“ mit Kriegsdienstverweigerern umgegangen werde, „das kommt dann auf die Situation an“, ergänzt er. Nach dem Gesetz wäre vom Sanitätsdienst bis zur Zwangsverpflichtung zum bewaffneten Einsatz alles möglich.

Aber auch Frauen, ehemalige Zivildienstleistende, Ausgemusterte und sogar Totalverweigerer könnten im „Spannungsfall“ zwangsrekrutiert werden: für Lazarettdienste, für die Verwaltung oder Fabrikarbeit. Das „Arbeitssicherstellungsgesetz“ sorgt dafür. Ausgenommen sind nur Frauen über 56 Jahre und die Personen, die von der „UK-Vorschlagsbehörde“ auf eine Liste der „Unabkömmlichen“ gesetzt wurden. Dazu gehören zum Beispiel die Bürgermeister, die Beschäftigten in Wasser- und E-Werken, aber z.B. auch die Kreisvorsitzenden des DGB.

Der „Spannungsfall“ wäre auch in anderen Bereichen eine Zeit der Listen und Formulare. Lebensmittelkarten liegen schon lange sauber gedruckt und gebündelt zum Beispiel im Keller der Bremer Zentralbank. Nach einer „Telefon-Sperr-Ausschlußliste“ würde die Post nur Polizei, Feuerwehr, einige Behörden und besonders ausgesuchte Personen schonen, wenn sie den Normalbürgern die Leitungen sperrt. Das Telefon würde bei den Gesperrten dann zwar noch klingeln, damit zum Beispiel Einberufungen schnell an den Mann kommen. Selber könnten sie aber nicht mehr telefonieren. Der Versuch des Bremers Rudolf Prahm, sich auch auf die „Telefon-Sperr- Ausschlußliste“ setzen zu lassen, damit er als überzeugter Kriegsverweigerer im „Spannungsfall“ seine Friedensfreunde noch schnell zu einer Friedensdemonstration zusammenrufen kann, scheiterte bis zur höchsten Instanz beim Bonner Postminister.

In jahrelanger Kleinarbeit hat Rudolf Prahm die möglichen Folgen der Notstandsgesetze zusammengetragen. Dabei stieß er auch auf eine Doppelfunktion der orangefarbenen Notrufsäulen an den Autobahnen. Auf der Rückseite haben sie Klappen, hinter denen sich Feldtelefone der Bundeswehr verbergen. Wenn die Normalbürger schon nicht mehr anrufen dürfen, sollen jedenfalls die an den Autobahnen stationierten Heimschutzregimenter zum Hörer greifen können.

Telefonieren dürfen die bundesdeutschen Bäcker im Notstand zwar nicht. Dafür müssen sie aber um so eifriger backen. Schon seit Jahren werden sie von den Zivilschutzbehörden aufgefordert, auf Formblättern Auskunft über ihre Brotback- Kapazitäten zu geben, wenn sie das Backen von Torten und anderem überflüssigem Süßkram unterlassen. Formularmuffeln wird mit dem Entzug der Mehlzuteilung im „Spannungsfall“ gedroht.

Die bürokratisch bis ins kleinste ausgetüftelten Szenarien sind durchaus ernst gemeint. Vor allem im Gesundheitsbereich gab es in den letzten Jahren immer wieder scharfe Töne gegen die Absicht, ÄrztInnen und Krankenschwestern mit Notstandsgesetzen zur Vorzugsversorgung des Militärs zu zwingen.

Sogar die Rundfunkmeldungen, mit denen die Bundesregierung im Falle des Falles den „Spannungsfall“ und die damit verbundenen Anordnungen unters Volk bringen will, ist schon formuliert. Sie liegt bei allen öffentlich-rechtlichen Radiostationen im Schrank, und die Sender wären gesetzlich verpflichtet, sie auch auszustrahlen.