Entdeckungsfahrt für die Ohren

■ Klangexpeditionen beim Musikfestival »Inventionen '91«

Luigi Nono 1986 (Foto: Grazia Lissi)

Es geht um elektroakustische Musik. Aber Achtung: Wer den dritten Aufguß der Fetzen von eh schon totgespielten Hits aus dem Sampler erwartet oder sich mit wabernden Sphärenklängen auf das Wassermann-Zeitalter einstimmen will, wird bei WOM besser bedient als bei den »Inventionen«. Diese Konzertreihe versteht sich als Forum für Musik, die Neuland erforscht und sich nicht scheut, dem Ohr Aufgaben zu stellen. inventio heißt Erfindung: die »Inventionen« bieten experimentelle Musik.

Dabei garantieren hervorragende Interpreten einen höchsten Ansprüchen genügenden musikalischen Standard. das trifft auch auf die technische Durchführung zu: der apparative Aufwand für die elektroakustischen Konzerte ist am Stand der Kunst orientiert, nicht zuletzt dank des kompromißlosen Einsatzes von Folkmar Hein und seiner Crew. Der Mann ist vom Fach: er leitet seit Jahren das Elektronische Studio der TU Berlin, die zusammen mit dem Berliner Künstlerprogramm des Deutschen Akademischen Austauschdienstes für die Veranstaltung verantwortlich zeichnet.

In diesem Jahr beziehen die »Inventionen« als erstes Musikfestival Spielstätten beiderseits der verschwundenen Mauer ein. So wird das Kino Babylon in der Rosa-Luxemburg-Straße am 13.2. Schauplatz eines Projektes von Arnold Dreyblatt sein: »Who's Who in Central & East Europe 1933«. In Berlin schon länger bekannt mit seiner Gruppe Orchestra of Excited Strings, wird der amerikanische Musiker diesmal von einigen weiteren hervorragenden Performern unterstützt, unter anderem von der virtuosen Vokalistin Shelley Hirsch. Grundlage der »Hypertext Performance« ist eine Biographiensammlung, die, von den Musikern und von Film-, Dia- und Computerprojektionen für Augen und Ohren aufbereitet, Geschichte als Ozean von persönlichen Geschichten erlebbar macht.

Ein wichtiges Anliegen der Veranstaltungsreihe war und ist die Vorstellung ausgewählter Studios für elektroakustische Musik. In diesem Jahr werden in zwei Konzerten neuere Produktionen aus den Baseler (4.2) und Berliner (10.2.) Klanglaboratorien zu hören sein.

Den Beginn des Festivals bildet die Präsentation von Werken des amerikanischen Klangkünstlers Alvin Lucier: Am 2.Februar wird ein Ausstellung mit Installationen von ihm eröffnet. Vier Ping-Pong-Bälle tanzen ein Ballett auf den Fellen von Baßtrommeln und kleine Gegenstände geben ihre seltsamen Resonanzen preis. Papier klingt geduldig. Das und noch einiges mehr gibt's zu sehen und zu hören in der daadgalerie über dem Café Einstein, und zwar bis zum 3.März.

Veritable Stücke von Lucier sind am Sonntag zu hören. Der Meister selbst führt seine berühmte »Music for Solo Performer« auf. Eine Batterie von Schlaginstrumenten wird von am Kopf des Performers abgenommenen Alpha-Wellen »gespielt«, jener Klasse von Hirnwellen also, die nur dann auftreten, wenn sich das aktive Denken verabschiedet hat zugunsten eines quasi-meditativen und von jeder visuellen Vorstellung freien Zustandes: Kontrolle durch Nicht-Kontrolle.

Im gleichen Konzert bringt die Pianistin Margaret Leng Tan Luciers sehr eigenartige Coverversion von »Strawberry Fields Forever« von Lennon/McCartney zu Gehör.

Margaret Leng Tan, die erste Frau, die einen Doktortitel an der renommierten Juillard School of Music erlangte, ist in besonderem Maße der Musik von John Cage verbunden. Im zweiten Konzert am Sonntagabend im Französischen Kulturzentrum interpretiert sie einige Werke des amerikanischen Oberguru der experimentellen Musik. Da wird auch dem Auge was geboten, speziell in der »Water Music« von 1952, in der die Pianistin außer dem Klavier noch ein Radio, ein paar Wassereimer und andere musikalische Accessoires traktiert. Ganz genau zuhören heißt es dann bei dem Stück »4'33''«, dem berühmten »silent piece« von Cage. Zwei seiner Werke aus den vierziger Jahren, die in Deutschland noch nicht aufgeführt wurden, komplettieren das Programm.

Im Mittelpunkt der diesjährigen »Inventionen« steht das Schaffen des italienischen Komponisten Luigi Nono, der im Mai vergangenen Jahres verstarb. Allein drei Konzerte sind ausschließlich seinem Euvre gewidmet. Wer Neue Musik ihres elitären Gebarens halber zu verteufeln pflegt, wer etwa meint, die gegenwärtige weltpolitische Situation verböte den Besuch eines Konzertes: Gerade Ihr oder Ihm seien diese Aufführungen nachdrücklich ans Herz gelegt. Egal, wo er sich befand, nie war für Nono der Elfenbeinturm Ort seines Komponierens. Vielmehr erhob er stets auch aktuellste politische und soziale Entwicklungen zum Motor seiner Inspiration. In dem frühen Stück »La fabbrica illuminata« von 1964 singt die Sopranistin unverstärkt gegen eine bizarre Klangwelt an, die von den elektronisch verfremdeten Klängen eines Stahlwalzwerkes bestimmt ist; unwillkürlich gemahnt ihre Klage an die Hochkonjunktur gewisser Zeige der Schwerindustrie zum gegenwärtigen Zeitpunkt.

Besonders wichtig wurde für Luigi Nono zunehmend die Verwendung von Raum als musikalischer Dimension. Einige wichtige Beispiele dafür kommen bei den »Inventionen« ebenfalls am 5.2. zur Aufführung, unter anderen die 1986 in Berlin vollendete »Risonanze erranti« und die Komposition »Diario polacco no.2«, wo es im Text heißt: »Wenn sie am sterben sind — singen die Menschen«.

Frappierend auch die unverhoffte Aktualität, zu dem das Schlachtfest am Golf dem Stück »Befreiung« von Heiner Goebbels verhilft. Die Textfragmente, von einem Sprecher förmlich herausgeschrien und von gesampelten Klängen und einem elektrisch verstärkten Kammerensemble begleitet, entstammen dem Theaterstück »Heiliger Krieg«, dem ersten Teil von Reinald Goetz' Trilogie »Krieg«. Die aggressive Sprache des großen Monologs des Stammheimer und der folgenden Worte des Heidegger wird in ihrer angriffsartigen Rhythmizität unverwischt dargeboten. Beide Gestalten fallen im Sprecher zusammen und rufen aufs fatalste die ideologische Nähe der zwei Chefprotagonisten des momentanen Mediengeschehens ins Gedächtnis. Ein »Briefing« zur Situation des Krieges nicht nur am Golf, sondern auch in den Köpfen, nicht in einem Zelt an der Front, sondern in der Akademie der Künste am 9.Februar.

Übrigens wurde dem Stück sogar schon die seltene Ehre einer Aufführung in Sibiren zuteil. Hier in Berlin wird der Text von Christoph Anders vorgetragen, der mit Goebbels auch durch die Zusammenarbeit in der Gruppe Cassiber verbunden ist. Frank Gertich

Das ausführliche Programm bis zum 13.Februar an den jeweiligen Tagen unter 'Musik‘.

Dieses Wochenende:

Am Samstag um 20 Uhr in der Akademie der Künste: Luigi Nono — Ein Symposium mit Hans Peter Haller, Nele Hertling, Klaus Kropfinger, Helmut Lachenmann, André Richard, Wolfgang Rihm und Jürg Stenzl. Ort: Hanseatenweg 10, 1000 Berlin 21

Am Sonntag um 18 Uhr im Französischen Kulturzentrum: Margaret Leng Tan (Klavier) mit Werken von Alvin Lucier: Music for Solo Performer (1965), Nothing is Real (UA), Amplifier and Reflector I (UA), Music for Piano and Amplified Sonorous Vessels (UA).

Um 20 Uhr, ebenfalls im Französischen Kulturzentrum: Anna Clementi (Sopran) und Margaret Leng Tan (Klavier) mit Werken von John Cage: One (1987), 4'33'' (1952), Water Music (1952, DE), In the Name of the Holocaust (1942, DE), Four Walls (1944, DE).

Ort: Unter den Linden 37, 1080