Manchmal hatte die Stasi sogar die Mehrheit...

■ In den Oppositionsgruppen der Hauptstadt der DDR stellte die Stasi manchmal die Mehrheit/ Reiner Eppelmann war von 45 »IMs« umstellt/ Bisher erst wenige der falschen Freunde bekannt/ Über Ralf Hirsch wurde noch im Februar 1990 berichtet

Berlin. Die Aktivisten der Bürgerbewegung vor dem Herbst 1989 kennen bis heute erst einen kleineren Teil der »inoffiziellen Mitarbeiter« der Staatssicherheit, die in ihren Reihen mitgearbeitet haben. Sie wissen nur, daß es viele waren — in manchen oppositionellen Gruppen hatte die Stasi sogar die Mehrheit.

Bei der »Initiative für Frieden und Menschenrechte« (IFM) etwa, von denen einige heute im Bundestag sitzen, waren von dem engen Kreise der 18 verschworenen Gründer gleich neun von der Stasi. Ralf Hirsch, Mitarbeiter im Büro des früheren Bürgermeisters Momper, war einer der anderen IFM-Gründer. »Wir haben gewußt, daß wir abgehört werden, daß wir beobachtet werden, daß IMs vielleicht auch im Umkreis der Gruppe sind«, sagt er heute. »Aber daß IMs unter den engsten Freunden sind, denen man hundertprozentig vertraut hat, für die man die Hand ins Feuer gelegt hätte — das haben wir nicht gedacht.« In Szene-Kneipen des Bezirkes Prenzlauer Berg erzählt man sich heute das extremste Beispiel: Im Friedenskreis Friedrichsfelde waren über die Hälfte der Gruppe IMs. Offiziell wußten die Informanten der Stasi nicht, wer sonst noch für die »Firma« arbeitete. Bei einer Stasi-internen Kontrolle zählte die Disziplinarabteilung aber einmal nach und wunderte sich, im ihrem Untersuchungsbericht steht das Beispiel und es wird die Frage aufgeworfen, ob sich dieser Aufwand überhaupt lohne und wer hier wen durchsetzen solle.

Nach Aussage eines Stasi-Hauptamtlichen waren auf Pfarrer Reiner Eppelmann, über zehn Jahre lang eine zentrale Person in kirchlichen Oppositionskreisen, gleich 45 »Inoffizielle« angesetzt, auf Ralf Hirsch 25, auf Reinhard Schult 18. Das waren dann nicht nur politische Freunde, sondern auch Kollegen etwa im Betrieb, auch Nachbarn — die Schlüsselfiguren der Opposition waren umstellt.

Direkte Vorschläge für spektakuläre Aktionen sind von den Stasi- Freunden nicht gekommen, aber sie konnten alles beeinflussen. Und sie ahnten, wer zur Firma gehörte, weil alle nach denselben Anweisungen vorgingen: Sich gut informieren, Aktionen verhindern oder zumindest hinauszögern und abschwächen. Ralf Hirsch: »Das hat sehr oft geklappt. Ich erinnere mich an eine Flugblatt-Verteilaktion 1987 zum Pressetag auf dem Alexanderplatz, wo sechs Leute Flugblätter verteilten, obwohl 30 kommen wollten. Und von den sechs Leuten waren noch einige IMs. Im ganzen Vorbereitungskreis waren nur ganz wenige echte Oppositionelle, die große Mehrzahl waren Angehörige der Stasi und kam dann nicht. Oder die Flugaktion nach Prag. Da haben 15 Oppositionelle 1986 einen Flug nach Prag gebucht, um darauf hinzuweisen, daß sie das Land nicht mehr verlassen dürfen. Und wir dachten, die Maschine würde dann halb leer abfliegen, wenn wir soviele Plätz buchen, die dann nicht besetzt werden. Über die Hälfte derer, die gebucht haben, waren Stasi-IMs, die vorher wußten, daß sie morgens abgeholt würden. Irgendwo war das eine Farce.«

Mit einzelnen der falschen Freunde hat es in Ost-Berlin quälende Gespräche gegeben. Oftmals leugnen die Betroffenen zunächst alles ab — wie jene Monika H. aus dem engsten Kreis um Bärbel Bohley und Gerd Poppe, die Anfang 1989 in Verdacht geriet, den aber beinahe zerstreuen konnte und sich dann doch offenbarte (die Gespräche sind als Buch erschienen: Geschützte Quelle, Basisdruck).

Die von der Stasi umstellten Oppositionellen sind schwer verunsichert. Ralf Hirsch: »Ich frage mich, was habe ich selbst gemacht, was wurde gesteuert, was beeinflußt. Meine Vergangenheit ist in Frage gestellt.«

Von den drei nach der Wende »prominent« gewordenen Stasi-IMs — Schnur, Böhme und de Maizière — hatte Hirsch vor allem mit Wolfgang Schnur zu tun. »Wir haben mit ihm im Vorfeld von vielen Aktivitäten abgestimmt, was wir machen. Er war informiert, sollte uns etwas passieren. Wir brauchten ihn im Grunde nicht als Rechtsanwalt, sondern als Vertrauensperson.« Hirsch hat mit seinem »Anwalt« nach dessen Enttarnung nicht mehr gesprochen.

Alles, was Hirsch über seine Vergangenheit weiß, weiß er aus Indiskretionen und Presseberichten. Als wegen Verdächtigungen gegen ihn selbst seine Akte eingesehen wurde, da saß er — auf dem Flur. »Diese ganze Akteneinsicht, wie sie derzeit läuft, ist eine Farce. Die sieben Leute, die meine Akte überprüft haben, wissen mehr über mein Leben als ich und sind zum Schweigen verpflichtet.« 23 Bände sind über Hirsch gesammelt, die letzte Eintragung in der »West-Akte« soll im Februar 1990, einige Wochen nach dem Sturm auf die Zentrale der Staatssicherheit in der Normannenstraße, vorgenommen worden sein, wurde ihm berichtet. »Ich will meine Akte lesen. Um zu erfahren: Was habe ich gemacht und was wurde mit mir gemacht. Ich habe ein Recht auf meine Vergangenheit.«

Was sind das für Leute, die falschen Freunde und Stasi-Informanten? Klaus Richter sieht heute seine politische Heimat bei den Bürgerbewegungen. 1990 war er sogar Geschäftsführer der Fraktion Bündnis '90 in der Volkskammer, bis im Dezember seine Stasi-Geschichte auf den Tisch kam. Er ist einer von denen, die vor Jahren einmal aus Überzeugung für die Stasi arbeiten wollten. Nach dem Philosophie-Studium meldete er sich für eine Ausbildung zum Spion — als Überzeugungstäter mit hohen Ansprüchen: »Kundschafter wollte ich damals werden. Im Interesse dieser Gesellschaft, des Sozialismus. Ich hielt sowas nicht nur für wichtig, sondern auch für gut.« Heute versteht er das Übermaß an Vertrauen kaum noch, das ihn damals so blind machte: »Ich habe mich darauf verlassen, daß die Vertreter der Institution schon wissen, was gut für mich ist.«

Monika H. aus der Ostberliner Gruppe »Frauen für den Frieden« ist eine von dem Typus Waisenkinder, denen die persönliche Betreuung durch das Ministerium für Staatssicherheit Halt und Orientierung versprach. »Ich war ein absoluter Idealist«, sagt sie, »schon immer«. Sie hatte ein vertrauensvolles, enges Verhältnis zu ihrem Führungsoffizier, der sich auch für ihre privaten Krisen Zeit nahm. Heute beschreibt sie ihr Verhältnis gegenüber denen, die sie an die Stasi verraten hat, so: »Ich hatte Euch gern, aber auch immer Angst. Die Angst, entdeckt zu werden... Ich wußte immer, selbst bei den Veranstaltungen mit den ‘Frauen‚, daß ich hinterher doch zu dem Typ zu gehen hatte und ihm berichten mußte. Dabei hatten ja Eure Anliegen wirklich mit mir zu tun. Die Anliegen fand ich ja ganz toll. Vielleicht hatte ich es deshalb nie so richtig als Verrat empfunden, was ich tat. Und letztlich konnten wir ja auch etwas machen.« Klaus Wolschner