Geplante Sparmaßnahmen kurzsichtig

■ Paritätischer Wohlfahrtsverband: Berliner Politik perspektivlos/ Solidaritätsmaßnahmen sollen soziales Netz stabilisieren/ Vorschlag: Strukturpläne gemeinsam mit neuen Ländern

Berlin. Perspektiv- und Hilflosigkeit attestierte gestern der Paritätische Wohlfahrtsverband der Berliner Politik. Die diskutierten Haushaltskürzungen und deren gravierenden Folgen für die wirtschaftliche Entwicklung und das soziale Netz in der Stadt seien nur die Spitze des Eisberges.

Es drohe eine Situation, die in ihrer Dimension der Berlin-Blockade 1948/49 gleiche und das »Soziale in der Marktwirtschaft« zerstöre, erklärte Geschäftsführer Jochen Brauns. Im Unterschied zu damals jedoch stünde Berlin heute allein — die BürgerInnen der Bundesrepublik verschlössen die Augen vor dem Schicksal der Stadt ebenso wie vor dem der fünf neuen Länder. Deshalb seien, zusammen mit den anderen neuen Bundesländern, gerade jetzt Anstrengungen nötig, um deren und Berlins Existenz zu sichern. Die Stadt müßte in diesem Jahr mit 500.000 Arbeitslosen rechnen, ein Drittel aller Familien seien von Verarmung bedroht. Alle Sparmaßnahmen müßten deshalb mindestens zwei Monate zurückgestellt werden, um in dieser Zeit »zukunftsweisende Perspektiven« zu entwickeln. Federführend für die Entwicklung einer Struktur- und Wirtschaftsförderung im Osten müsse Berlin sein, da die Stadt als einzige unter den sechs neuen Bundesländern über eine funktionierende Verwaltung und Wirtschaft verfüge. Für die Zukunft setzte Brauns gestern vor allem auf das Solidaritätsprinzip. Dringend nötig sei der Finanzausgleich zwischen alten und neuen Ländern. Die Treuhandanstalt müsse Grundeigentum des deutschen Reiches und der DDR an Berlin übertragen, um so die Überlebensfähigkeit der Stadt zu festigen. Sollte das alles nicht helfen, appellierte Brauns an die Solidarität des Einzelnen, müßten sich die Belastungen etwa in Höhe von 3 Prozent auf die Löhne und Einkommen der BerlinerInnen sowie der Unternehmensgewinne niederschlagen.

Doch die Westberliner Bevölkerung sei schon genug gestraft: Während nach Aussagen von Bundesfinanzminister Waigel (CSU) die Einigung jeden Westdeutschen rund zehn Mark kosten soll, verlören die BerlinerInnen allein durch den Abbau der Berlin-Hilfe pro Kopf mehr als 6.000 Mark. Pauschale und undifferenzierte Sparbeschlüsse führten zudem zum endgültigen Kollaps der sozialen Sicherungsnetze. In West-Berlin drohe unter anderem die Vernichtung der 25.000 Plätze in Kindertagesstätten freier Träger. Mit der Verstaatlichung dieser Einrichtungen würden die dann vom Land Berlin zu tragenden Aufwendungen laut Brauns etwa auf das Fünffache steigen. Die Kurzsichtigkeit der anvisierten Sparmaßnahmen zeige sich besonders deutlich, wenn ambulante Gesundheitseinrichtungen gekürzt oder gestrichen würden — die dann steigenden stationären Aufenthalte sind ungleich teurer. maz