Die Liturgie des Schlangestehens

„Genossen, rücken wir ein bißchen“  ■ Von Martin Halter

Die konzeptuelle Literatur der Sowjetunion, wie sie in der „Stagnationsära“ unter Breschnew entstand, hat mit der herkömmlichen Dissidentenliteratur inhaltlich und vor allem formal wenig gemein. Die Konzeptualisten, mehr am Sprachspiel als am Menschenrecht interessiert, wollten nicht Anklage erheben, sondern listig affirmieren; nicht das offizielle Pathos durch das Pathos der Kritik reproduzieren, sondern durch Imitation unterlaufen und die Ideologie durch einen systemkonformen pädagogischen Gestus gehorsamst ad absurdum führen. Die versteinerten Verhältnisse sollten zum Tanzen gebracht werden, indem man ihnen ihre eigene kakophonische Musik vorspielte. Die Konzeptualisten der siebziger Jahre knüpften dabei an alte Traditionen der russischen Avantgarde an: Chlebnikow und Krutschonych hatten schon vor der Oktoberrevolution mit einer von Bedeutung gereinigten „Sternensprache“ buchstäblich „hinter den Verstand“ dringen wollen. Daniil Charms und die Oberiu- Gruppe hatten, solange Stalin es duldete, die Erhabenheit des „Sozialistischen Realismus“ mit dadaistischer Aktionskunst und einer Banalisierung des monumentalen hohen Tons verhöhnt.

Inzwischen sind die Konzeptualisten der ersten Stunde selber schon von einer zweiten Generation abgelöst und überholt worden, die noch spielerischer mit den abgelegten Mythen umgeht. Indem der Dichter im Stimmengewirr der Masse, im kollektiven Lärm untertaucht, wird mit dem Proletenkult spät und ironisch Ernst gemacht. Der Autor gibt alle seine bürgerlichen Privilegien auf: poetische Sprache, Subjektivität und Autonomie. Seit die Perestroika die Grenzen zwischen offizieller und inoffizieller Kultur, Erstarrung und Avantgarde aufgelöst hat, konkurrieren die Künstler um die radikalste Tabuverletzung. Was den „Kindern des Konzeptualismus“ (so Günter Hirt und Sascha Wonders im Schreibheft 36) in dieser Situation bleibt, ist oft nur noch die Lust an ästhetischer Aleatorik und an der Parade der Dekadenz.

Auch der 35jährige Wladimir Sorokin, eines der größten Talente der russischen Literatur und neben D.A. Prigow führender Konzeptualist, spart nicht mit Provokationen. Sein Haupt- und Leitmotiv ist: Scheiße; seine literarische Praxis: Nekrophilie am verwesenden Leichnam Kommunismus. In Sorokins Erzählungen, etwa in der Der Obelisk, ist das sowjetische Idyll ein süßlicher, dünner Firnis über dem Gräßlichen und Ekelhaften, die allseits entwickelte sozialistische Persönlichkeit eine Karnevalsmaske, unter der sich, mit metaphorischem Verlaub zu sagen, ein Haufen Scheiße verbirgt. Aber Sorokin fühlt sich — getreu der Maxime: Wo Exkremente sind, ist auch Leben — darin so wohl wie nur ein Wurm. Das Ausgeschiedene und Verfaulte sind für ihn Elemente des Naturzyklus', Kreatürlichkeit in ihrer sinnlichsten und skandalösesten Gestalt. Und Dünger für seine Kunst, die langsam auch bei uns Aufmerksamkeit findet: In Berlin wird ein Theaterstück von ihm aufgeführt; der Fischer-Verlag bereitet einen Erzählungsband vor, und bei Haffmans ist eben sein 1985 in Paris veröffentlichter und seither in acht Sprachen übersetzter Roman Die Schlange erschienen, von Peter Urban bravourös ins Deutsche übertragen. Der Roman hält, was sein Titel verspricht. Der Sowjetmensch verbringt, neueren Statistiken zufolge, ein Drittel seines Lebens mit Schlangestehen; die Schlange ist für ihn Existenzform, Alltag und Kosmos. Sorokin protokolliert auf 280 Seiten Dialogfetzen von Wartenden, die sich im heißen Moskauer Sommer zwei Tage und eine Nacht lang die Beine in den Bauch stehen. Man drängelt und quengelt; Witze machen die Runde, Gerüchte von unglaublichen Schnäppchen und Abenteuern in fremden Schlangen. Man hechelt Fußballer, Schnulzensänger und Dichter durch, die Alten erwägen die Vorteile Stalins und die Nachteile der Georgier und Juden, die jungen Rowdies die Chance, an Fusel und Fluppen zu kommen. Wir werden, scheinbar absichtslos, Zeugen hitziger Auseinandersetzungen, geordneter Schlangenbewegungen — „Genossen, rücken wir ein bißchen“ — und Gelegenheitsflirts. Mal ziehen die Wartenden, von der Miliz ständig dirigiert und umgruppiert, in schattige Hinterhöfe oder zum nächsten Kvas-Stand um, mal drängeln sich die Delegierten vom Bezirksstoßarbeiterkongreß vor; jeder ist sich selbst der nächste, und doch sind alle zusammen Schicksalsgenossen in einer Völkerwanderung, ein kommunistisches Kollektiv, bei dem sich jeder an seinem Vorder- und Hintermann orientiert.

Es geht auch vorwärts, doch, aber niemand weiß so recht, wohin. Wofür sie anstehen, bleibt den Bürgern so unklar wie dem Leser: sind es nun amerikanische Schuhe, türkische Mäntel oder polierte Vertikos? Der Gebrauchswert der Ware irgendwo weit vorn tut auch wenig zur Sache, wo es um die sozialen Beziehungen ganz hinten und unten, um Volkes Stimme als Organ literarischen Sprechens geht.

Sorokin protokolliert Satzfetzen, Dialoge und Schimpfduelle, Seufzen und Stöhnen mit jener leidenschaftslosen Präzision, die der grotesken Situation angemessen ist. Wenn die verdienten Helden des Schlangestehens — wir befinden uns irgendwo in der Mitte des Bandwurms bei Nummer 1.236 — nachts ein Nickerchen machen oder ihren Rausch ausschlafen, blendet sich auch der Autor nach Art der konkreten Poesie aus und rückt leere Seiten ein. Wenn die Nummerierten zum Abzählen kommandiert werden oder Ordnungskräfte zum Namensappell blasen, geht es über lange Strecken hinweg nach Art der seriellen Literatur so zu: „Chlebnikowa! — Ja! — Chazanova! — Ja! — Mezirova! — Ja!“ Und als Vadim von der Gewalt eines Gewitterregens ins Bett einer freundlichen Witwe getrieben wird, entspinnt sich ein russisches Hörbild, das an lautmalender Plastizität nichts zu wünschen übrigläßt: „Acha!— Oj... — Acha! — Oj... — Acha! — Aaaah... oj... mein... Ka...ter.. — Hach! — Oooch... — Hach! — Aaach... — Hach! — Aaah! Aaaaaa! Oj! Aaaah!“ Der dreifache Orgasmus des „kleinen Arbeiters“ ist nicht nur der Gipfel menschlicher Aktivität, sondern enthüllt auch die Pointe der Sisyphusarbeit wie der Sprachprozession Sorokins: Die wermutselige Witwe selber ist die Verkäuferin des knappen Guts, dessentwegen alle anstehen. Sie hat, weil ihr Kaufhaus ohnehin Inventur macht und Erbsenzählen nicht ihre Sache ist, eben mal ein Päuschen eingelegt, von dem bloß noch keine Kunde zu den Kunden vorgedrungen ist. Die Schlange beißt sich in ihren Kopf, und der ist so leer wie die Regale der Moskauer Läden. Immerhin, die Heilsgewißheit des Wartenden erfüllt sich, wenn auch auf unerwartete Weise. Am Ziel leuchtet die Kontingenz des Lebens — ein altmodischer Wintermantel, eine Tracht Prügel, vielleicht sogar eine Frau: „Es geht vorwärts, Genossen.“ Sorokin, soweit er als Autor noch hörbar bleibt, steht nicht an, das Anstehen als Sinn des Lebens zu verklären. „Ein Schriftsteller muß alles erlebt haben“, sagt ein erfahrungshungriger Dichter, ehe er ein Mädchen mit dem Versprechen auf einen unbürokratischen Mantelerwerb aus der Schlange lockt.

Natürlich besteht die Gefahr, daß ein solcher Schlangendiskurs auf Dauer ermüdet. Aber der gelernte Ingenieur Sorokin hat in seinem Text nicht bloß die Warteschlange in all ihrer Monotonie und Mechanik — Anstellen, Einreihen, Austreten — in Sprache verwandelt, sondern darin auch die Stereotypen und Rituale sowjetischer Alltagssoziologie beschrieben. Das geordnete Durcheinander, das Geplapper der Hausfrauen, Studenten und Rentner ist nicht Gegenstand kritischer Betrachtungen über die desolate Sowjetökonomie, sondern eine Zeremonie von erhabener Sinnlosigkeit, ein Mythos der Banalität. Es geht, wenn nicht vorwärts, so doch weiter. Und wenn es nicht so traurig wäre, müßte man die Sowjetmenschen fast um die Liturgie des Schlangestehens beneiden.

Wladimir Sorokin, Die Schlange . Roman. Aus dem Russischen von Peter Urban. Haffmans Verlag, 269 S., gebunden, 32 DM.