Wo, bitte, sitzt das Herz des Staates?

■ Die „Gründergeneration“ der Roten Brigaden beginnt zu sprechen/ Alberto Franceschinis Autobiographie und Prospero Gallinaris erstes Interview liegt jetzt auch in deutscher Sprache vor/ Erhellende Hintergründe werden nicht geliefert

Ratlos heißt wohl das Wort, das am besten die Seelenlage des Lesers nach der Lektüre dieses Buches beschreibt. Alberto Franceschini, heute 43 Jahre alt, zusammen mit Renato Curcio und der 1975 bei einem Feuergefecht mit der Polizei umgekommenen Mara Cagol bekanntester Mitbegründer der „Roten Brigaden“, seit 1974 in Haft, hat unter dem Titel Mara Renato ed io im Sommer 1990 seine Autobiographie publiziert. Laut Vorwort will er damit „den Terroristen Alberto Franceschini begraben“.

Erwartet hatte man jedenfalls tiefere Aufschlüsse als die bisher gebotenen über die Beweggründe, die damals in Italien junge Menschen in den Untergrund und dann in den „bewaffneten Kampf“ getrieben haben. Franceschini schien für diese Aufarbeitung besonders geeignet, war er doch der erste Brigadist, der steckbrieflich gesucht wurde (wegen Wehrdienstverweigerung). Und wer ihn kennt, weiß auch, daß er weniger abstrakt argumentiert als der Theoretiker der Gruppe, Renato Curcio, und weniger verschlossen ist als andere Kombattanten, etwa Mario Moretti, Anführer der Entführung des christdemokratischen Parteipräsidenten Aldo Moro, oder der als Killer Moros verurteilte Prospero Gallinari.

Bisher war bei Publikationen über die Interna der Roten Brigaden aufgefallen, daß die Bereitschaft zu sprechen um so ausgeprägter war, je weiter der Betreffende vom inneren Kern entfernt und je später er zur Gruppe gestoßen war. Viele von ihnen redeten eben nicht nur vor Gericht, sondern auch mit Journalisten oder in Biographien.

Hart und verschlossen blieb jedoch bis vor kurzem jener „Nucleo storico“, der historische Kern der Gründer: Curcio veröffentlichte zwar zwei Bücher (eines zusammen mit dem vor drei Jahren von der Mafia ermordeten Mauro Rostagno), doch dabei handelte es sich eher um literarische und poetische Arbeiten als um Auseinandersetzungen mit der eigenen Geschichte. Der erste große „Kronzeuge“ und einstige Chef der Turiner Kolonne, Patrizio Peci, gab 1984 Io l'infame von sich, das aber mangels tieferer Kenntnis der ersten Brigadisten-Bewegungen kaum Aufschlüsse brachte.

Franceschini wurde daher mit großer Neugier und Hoffnung auf erhellende Hintergründe erwartet. Kein Zweifel: Wer die rund 200 Seiten (fast ein Drittel davon Anmerkungen und ein Begriffslexikon, das die Ghostwriter Franceschinis, Pier Vittorio Boffa und Franco Giustolisi, hinzugefügt haben) liest, wird unmittelbar gepackt. Das Buch ist spannend, oft auch mit hintergründigem Humor gespickt, vor allem aber mit einer reichlichen Portion Selbstironie geschrieben. Doch die hohen Erwartungen an Aufklärung über die „Gründergeneration“ der Brigaden und die Zeit des „bewaffneten Kampfes“ in den 70er Jahren werden an keiner Stelle befriedigt. Eher schon liest sich das Buch wie ein Remake von Mark Twains Huckleberry Finn oder eine Drehvorlage zu Little Big Man.

Vom Stolz über das Abfackeln einer Garage

Lange Kapitel (Der rote Faden, Im Untergrund, Der Wind der Revolution, Die ersten Feuer) beschäftigen sich mit Anekdoten und Schnurren: Da hört man von der Kumpanei mit Veteranen der „Resistenza“, die den Dreiviertelwüchsigen Wehrmachtspistolen zustecken, von Schießversuchen in Höhlen und vom Verbrennen der Personalausweise als symbolisches Zeichen des Abtauchens in den Untergrund, vom Stolz über die allgemeine Aufmerksamkeit nach dem Abfackeln der Garage eines Abteilungsleiters, von den Geburtswehen des Namens „Rote Brigaden“. Doch vergebens sucht man herauszulesen, welche gesellschaftlichen Realitäten zur Gewaltanwendung führten.

Sicher: da beschreibt Franceschini Demonstrationen vor Nato- Flugbasen, bei denen die (oppositionellen) Kommunisten als Ordnungshüter auftauchten und so den jungen Militanten alle Illusionen auf eine Revolution nahmen. Doch warum die Franceschinis und Curcios und Cagols die Enttäuschung über die alt und zahnlos gewordenen PCI in Zeitzünderattentate auf Ingenieursautos und Entführungen leitender Angestellter und kleiner Gerichtsbeisitzer transformierten, darüber gibt es keine Auskunft.

Natürlich kann sich jeder sein Teil denken; wer hätte nicht in sich auch ab und an die Wildwestromantik verspürt, Ungerechtigkeiten mit eigener Hand zu beseitigen. Und doch wäre es so wichtig zu verstehen, ob es das bei Franceschini und seinen Freunden war. Völlig außen vor bleibt zum Beispiel die Frage, ob auch bei den Rotbrigadisten am Anfang jenes soziale Engagement gestanden hat, das in der Bundesrepublik der Großteil der späteren RAF-Gründer für sich reklamiert hat. Franceschini gibt darauf keine Antwort.

Man braucht also schon ziemlich viel Zutrauen in die Vermutung, Franceschini oder seine Hilfsschreiber hätten einfach viele Inhalte der Lesbarkeit des Textes geopfert. Hat man dieses Vertrauen nicht, müßte man eher zu dem Schluß kommen, der „bewaffnete Kampf“ sei vorwiegend deshalb begonnen worden, weil eine mit viel Freizeit gesegnete Gruppe von Nachkriegskindern einfach den Alten im Partisanenkampf nacheifern wollte, einen Kriegsschauplatz zuerst vor den Fabriktoren und dann am „Palazzo“ der Politiker in Szene setzte und sich schließlich, getragen von der unverhofften Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit und dem von Polizei und Geheimdiensten gelassenen unglaublichen Freiraum, in eine Art Allmachtsphantasie hineinsteigerte.

Die deutsche Ausgabe — eine teilweise überflüssig holprige, teilweise an der falschen Stelle geglättete Übersetzung — hat dem Originaltitel nicht getraut. Statt dessen ist Das Herz des Staates treffen daraus gemacht worden, nach einem von Mara Cagol erfundenen und später auf Flugblättern der Roten Brigaden wiederholten Slogan. Vielleicht wollte der Europa-Verlag mit diesem Spruch dem Wißbegierigen sozusagen mit einem einzigen Satz klarmachen, was diese Biographie eigentlich darstellen sollte.

Doch der neue Titel verwirrt den Leser am Ende noch mehr. Denn ganz und gar unklar bleibt, wer denn da wo das Herz des Staates vermutete, womit und wann genau es getroffen und was letztlich damit erreicht werden sollte. Diese Unsicherheit ist natürlich nicht Franceschinis Schuld — offenbar war die Sichtweise bei den Brigadisten schon immer sehr unterschiedlich, und sie verschärfte sich noch mehr, seit die Kontakte zwischen den inhaftierten Genossen mit den draußen weiter agierenden jede Diskussion erschwerten.

Entging den Genossen die Komplexität der Situation?

Doch das war keineswegs alleine der Grund: Curcio, Franceschini und eine Reihe ihrer Kombattanten aus der Gründerzeit waren offenbar viel stärker als die später Hinzugestoßenen auf die interne italienische Politik aus. So sahen sich die Brigadisten der „ersten Stunde“ ziemlich enttäuscht von dem für sie wirren Herumgerede in den Komuniqués der Moro-Entführer 1978, in denen es vor allem um die „Internationale der Multis“ oder den „US-Imperialismus und dessen Architekten und führendem Vertreter Aldo Moro“ ging.

Franceschini: „Die Argumentation ist viel zu schematisch. Sie kreist nur um die Person Aldo Moros und um seine Verantwortung als Führer der Christdemokraten. Es scheint, als entginge den Genossen die Komplexität der Situation, in der sie für den Moro nicht allein verantwortlich ist.“ Ja, und nun wüßte man gerne, warum für Franceschini dieser „historische Kompromiß“ — die Allianz zwischen Christdemokraten und Kommunisten — das Herz des Staates sein soll. Doch damit ist nichts, die eben zitierten fünf Zeilen des Buches sind auch schon alles, was man darüber erfährt.

Und schon gar nichts liest man darüber, was der Angriff auf dieses „Herz“ denn hätte bewirken sollen: etwa eine Blockade des historischen Kompromisses? Mit welchem Ziel? Die Kommunisten wieder in die Opposition zu jagen, wo sie sich seit eh und je als unwirksam erwiesen hatten? Oder den Christdemokraten weiterhin die Verantwortung pur für die Mißwirtschaft im Lande zu belassen? Oder die putschwilligen Generäle aufgrund des dann drohenden weiteren Chaos in der Politik zum Losschlagen zu ermuntern und danach eine neue Resistenza aufzubauen, deren Kern die Brigaden wären?

Kann alles sein oder auch nicht. Nur — man wüßte es eben gerade von Franceschini gerne genauer. Wie man auch gerne genauer wüßte, was denn nun wirklich zur „Wende“ im Denken des Franceschini geführt, ihn zu seiner Abkehr vom Terrorismus geleitet hat, mit der er sein Buch beschließt: Er verweist zwar auf die Morde von Joungstern seiner Gruppe an Carabinieri, doch wie und warum es ihm aufging, daß der Kampf nicht nur verloren war (wie Curcio das formuliert), sondern sein Leben voller „Irrtümer und Dogmen“ gewesen sei, bleibt weiter im dunkeln.

So suchten denn auch Italiens Rezensenten recht verzweifelt nach Neuigkeiten in dem Buch: überwiegend vergebens. Einziges Novum ist die allerdings wieder einmal viel zu abrißhafte Beschreibung von Entführungsvorbereitungen für das Oberschlitzohr der Christdemokraten, Giulio Andreotti, den man schon 1974 mal ins Auge gefaßt hatte. Weniger erhellend, doch immerhin interessant unter psychologischem Gesichtspunkt sind die kurzen Passagen über die Auseinandersetzungen zwischen den Genossen im Knast und den Kollegen draußen anläßlich der Frage, wie die Massen organisiert werden könnten. Während die Inhaftierten den Zeitpunkt für Massenagitationen für gekommen hielten (weil es ihnen in ihrem Mikrokosmos, anders als früher, nun ohne Schwierigkeiten gelang, Häftlingsrevolten anzuzetteln oder zu lenken), erklärten die Kombattanten in Freiheit, das ginge ganz und gar nicht (was wohl daher rührte, daß sie ja im Untergrund lebten und Menschen außerhalb ihrer Gruppe als eine Art „natürlicher“ Denunzianten oder Feinde ansahen).

Und dennoch könnte in dem Buch unter der Oberfläche für Insider und intime Kenner der Geschichte der Roten Brigaden doch mehr sichtbar werden. So tauchen immer wieder leichte Zweifel Franceschinis an einer Zentralperson der zweiten Generation der Roten Brigaden auf: an Mario Moretti, der seit der Festnahme von Curcio und Franceschini 1974 und dem Tod Mara Cagols 1975 unbestrittener Führer der Roten Brigaden wurde.

Immer wieder fragte sich Franceschini nach den Umständen seiner und Curcios Festnahme: Moretti hatte eine Warnung an Curcio nicht weitergegeben. Auch daß geplante Ausbrüche aus dem Gefängnis an Ausreden Morettis scheiterten, zeigt Franceschinis Buch deutlich — obwohl der Verdacht, der „Architekt“ der Entführung Moros sei entweder ein Infiltrant gewesen oder im Laufe der Zeit umgedreht worden, in diesem Buch nicht direkt ausgesprochen wird.

Doch immer wieder kommt Franceschini auf Einmischungsversuche und Hilfsangebote des israelischen Mossad zurück — um dann auch auf eine mysteriöse Schiffsreise Morettis zu verweisen, bei der der Brigadist in den (von den Israelis kontrollierten) Südlibanon schipperte, um — angeblich von der PLO — Waffen zu übernehmen.

„Die Roten Brigaden wurden instrumentalisiert“

Moretti aber läßt sich, wie schon bisher, zu solchen Andeutungen nicht aus. Wenn er sich, wie 1987 und 1988 nach den großen Prozessen gegen die Roten Brigaden, in Fernsehinterviews äußerte, dann grundsätzlich mit lapidaren Sätzen wie: „Die Wahrheit ist längst heraus: sie steht in den Gerichtsakten und den Dokumenten der parlamentarischen Kommissionen“.

Möglicherweise wird aber auch er sich doch noch zu konkreten Äußerungen und zu einer stärkeren Verteidigung gezwungen sehen. Einer seiner getreuesten Gefolgsleute aus der Zeit der Moro-Entführung, Prospero Gallinari, hat Ende 1990 sein Schweigen gebrochen, vielleicht angesichts seines baldigen Todes. Denn Gallinari erlitt bei seiner Festnahme 1980 schwere Kopfverletzungen und hat jüngst seinen zweiten Herzinfarkt erlitten.

So hat der mutmaßliche Moro- Mörder der 'L'Unità‘, ausgerechnet dem Organ der vordem von den Brigadisten so gehaßten KP, ein ganzseitiges Interview gegeben, in dem er einräumt, daß „diese Toten, die wir auf unserem Schlachtfeld hinterlassen haben, mich sehr belasten“; er sprach über den „gegenseitigen Respekt“, der sich mit Moro während der 55 Tage „Volksgefängnis“ ergeben hatte, über den selbst von ihm verspürten Zwang, sich dem „Problem Moro“ nicht nur politisch, sondern auch unter dem Gesichtspunkt der Humanität zu stellen. Zwar verteidigte Gallinari seinen Brigadisten- Chef noch immer vor dem Vorwurf, ein Infiltrant zu sein — doch beharrlich bestand er auch darauf, Franceschini nicht zu dementieren.

Der legte dann noch einmal nach. Mittlerweile mit Erlaubnis zum Tagesausgang ausgestattet (seine Strafen enden erst im Jahr 2016, obwohl ihm keine einzige Bluttat zur Last gelegt wird), kann er sich freier bewegen und mehr Erkundigungen über seine Kombattanten von einst einziehen. Ergebnis, so Franceschini in einem Interwiev mit 'La Repubblica‘ vom Jahresende: „Für mich gibt es heute keinen Zweifel mehr: die Roten Brigaden wurden instrumentalisiert, nur ein Teil ,unserer Aktionen‘ waren wirklich 'unsere‘. Und wenn es einen gibt, der hier endlich klaren Wein einschenken sollte, dann ist es Moretti.“ Werner Raith

Alberto Franceschini, Das Herz des Staates treffen , Europa-Verlag 205 S., 1990.