Mit 20 Stundenkilometern zu Fuß unterwegs

■ Der Kybernetiker Frederic Vester zur Zukunft des Individualverkehrs im vereinigten Deutschland/ Umweltverträgliche Wechselautos, Fließbandtrottoirs und Verbund-Verkehrssysteme sind die neuen Modelle/ Die Autoindustrie muß ihr Know-how als Energiesparagentur und Recycling-Unternehmen nutzen

taz: Herr Professor Vester, Sie haben — ausgerechnet im Auftrag der Automobilindustrie — detaillierte Vorschläge für ein ökologisch verträgliches Verkehrssystem entwickelt. Einerseits wollen Sie das Auto nicht abschaffen, andererseits gehen Ihre Vorstellungen weit hinaus über alles, was in der Tagespolitik diskutiert wird. Wie hat man sich das Auto der Zukunft vorzustellen?

Frederic Vester: Es wird mit Sicherheit kein Auto mit Explosionsmotor mehr sein und ebensowenig eines, das auf der Basis fossiler Treibstoffe läuft. Herauskommen wird ein grundsätzlich anderes Fahrzeug. Und damit entstehen automatisch andere Gebrauchszwecke. Ein Auto, das nur langsam fahren kann, etwa auf Strombasis, wird man nicht mehr auf dieselbe Art und Weise einsetzen können und wollen, wie den gängigen Tourenwagen. Den wird es in dem Sinne gar nicht mehr geben.

Wodurch wird er ersetzt werden?

Mit Sicherheit werden wir weiterhin ein individuelles Transportmittel brauchen. Aber wenn sich das Auto in seiner Funktion ändert, öffnen sich Räume für andere Möglichkeiten. Es kann dann mit anderen Verkehrsträgern ganz anders verbunden werden als heute, wo die verschiedenen Verkehrsbereiche kaum miteinander verknüpfbar sind. „Park and ride“, „bike and ride“ und so weiter: All diese Kombinationsmöglichkeiten funktionieren ja nicht, aufgrund der festgefahrenen Struktur mit dem Tourenwagen im Zentrum. Wenn man das Auto ändert, eröffnet man schlagartig neue Möglichkeiten für den Verbund mit der Bahn, mit dem Fahrrad, auch mit dem Zu-Fuß-Gehen. Heute können Sie zum Beispiel nicht einfach den Gepäckraum aus dem Auto rausnehmen, sondern müssen mit ihrem Gepäck da hinfahren, wo es hinsoll. In dem Moment, wo sich dieser Autoteil abtrennen, herausziehen läßt, haben Sie praktisch einen Kofferkuli in der Hand und fahren das Gepäck zu Fuß dorthin, wo Sie mit dem Auto gar nicht hinkommen.

Oder denken Sie an Fließbandtrottoirs, die mit gestaffelten Geschwindigkeiten nebeneinanderlaufen. Wir kennen ja schon von den großen Flughäfen diese Rollwege, mit allerdings nur einer Geschwindigkeit. Wenn Sie mehrere nebeneinanderlegen, mit dem jeweils selben Geschwindigkeitsübergang, dann fahren Sie zum Beispiel bei vier Stufen schon mit 15 oder 20 km/h durch die Gegend.

Aber es bliebe dabei, daß praktisch jeder Erwachsene über sein eigenes Fahrzeug verfügt?

Nicht unbedingt. Neu bedacht werden muß mit Sicherheit der Vorschlag von Wechselautos, die für jeden zur Verfügung stehen. Es ist ein Unsinn, daß heute ein Auto im Durchschnitt 18 Stunden steht, um dann eine Stunde gefahren zu werden. Der neue Autotyp kann dort, wo er steht, auch gleich selber auftanken — etwa über ein Solardach. Wer eine Elektronik-Karte hat, mit der er heute schon telefoniert oder Geld von der Bank holt, hat dann eben auch eine Elektronik-Karte, mit der er seine Fahrten mit dem Wechselauto verbucht, und auf der sein gültiger Führerschein codiert ist. Diese Möglichkeiten eröffnen sich für den Individualverkehr, auch in Kombination mit Kabinenbahnen, mit Schwebebahnen, die im übrigen ja viel billiger sind als die U-Bahnen.

Sind die schönen Vorstellungen auch realisierbar? Ihnen wird ja vorgeworfen, Sie hätten Ihre Studie an die falsche Adresse, nämlich an die Autoindustrie gerichtet. Kein noch so großer Autokonzern könne als Einzelunternehmen aus den Zwängen des Marktes ausbrechen.

Der Vorwurf ist falsch, weil ich die Studie gar nicht in erster Linie an diese Adresse gerichtet habe. Das war nur der Auftraggeber. Gerichtet habe ich die Vorschläge auch an die Politik, die Kommunen, die Bahn und die Bürger. Die ganze Anlage der Studie zeigt, daß ich sehr viele Zielgruppen ansprechen will. Der Autoindustrie versuche ich mit meiner Methode der „Sensitivitätsanalyse“ lediglich Strategiemöglichkeiten aufzuzeigen. Ich sage nicht: macht dies oder macht das, sondern gebe Wenn-dann-Prognosen: Wenn ihr den Hebel hier ansetzt, dann passiert dies oder jenes. Wenn ihr hier nur antippt, dann folgt eine selbsttätige Beschleunigung, wenn ihr dort etwas ändert, dann folgt daraus überhaupt nichts, weil damit zum Beispiel nur Symptome behandelt werden und so weiter.

Solange die Leute immer tollere Autos verlangen und die Politik keine grundsätzlich anderen Vorgaben macht, bleibt die Autoindustrie trotzdem dazu verdonnert, so weiterzumachen wie bisher.

Nicht unbedingt. Der Fehler der Autoindustrie besteht ja zur Zeit darin, daß sie sich an ihrem speziellen Produkt festbeißt. Das unterscheidet sie zum Beispiel von der Computerindustrie, die sich ständig verändert, neue Techniken nutzt und heute zunehmend sogar auf den Software-Bereich übergeht. Die Erfolgreichen dieser Branche sind ihrer Funktion treu geblieben, aber hängen nicht an einem bestimmten Produkt. Auch die Autoindustrie stünde vor einem riesigen Feld toller Aufgaben. Aufgaben, die unbedingt gelöst werden müssen.

Denn was ist ein Auto? Eigentlich ist das Auto ein mobiles Kleinkraftwerk, das chemische Energie in Drehung und Bewegung umwandelt, Licht, Strom und Vibration erzeugt. Was darin an technologischem Know-how versammelt ist, kann man für sehr viel interessantere Dinge nutzen, als für den Bau dümmlicher Tourenwagen.

Nehmen Sie den Motorenbau, zum Beispiel Kraftwärme-Maschinen für Strom und Heizung einzelner Häuser: Da können sie Millionen Anlagen herstellen, die nichts weiter tun, als den Verbrauch fossiler Brennstoffe auf ein Drittel zu reduzieren. Wenn sie dann noch Stirling- Motoren einbauen und das ganze mit Solaranlagen kombinieren, geht der Verbrauch noch weiter runter. Oder warum arbeitet die Autoindustrie nicht an Windkraftwerken? Die kennen sich aus in der Aerodynamik, im Generatorbau, verfügen über Windkanäle und so weiter. Aber sie überlassen das Feld den Bastlern.

Selbst in die Recycling-Technologie könnten die längst einsteigen: Das Auto ist zum Beispiel auch eine „Schüttelmaschine“. Wenn Sie es sozusagen auf den Rücken legen und die Straße sich bewegen lassen, dann haben Sie im Prinzip nichts anderes, als ein Transportband zur Sortierung von Abfällen. Oder warum engagieren sie sich nicht im Waggon- und Kabinenbau? All das hat sich die Autoindustrie wegnehmen lassen. Wenn die Unternehmen sich nur ein bißchen diversifizieren, dann können sie noch einmal 100 Jahre überleben.

Zurück zur Politik. Die hat in den vergangenen Jahrzehnten immer nur die Rahmenbedingungen für die autogerechte Stadt und das autogerechte flache Land geschaffen. Sehen Sie Chancen, daß sich dieser Trend in Zukunft substantiell ändern könnte?

Durchaus. Der EG-Kommissar Ripa di Meana hat sich ja zur Überraschung derjenigen, die ihn ernannt haben, als recht zukunftsorientiert entpuppt. Auch ihm scheint klar zu sein, daß eine Fortschreibung der bisherigen Entwicklung geradewegs in die Sackgasse führt. Natürlich kann man noch eine Zeitlang weiter Autos produzieren wie bisher. Und natürlich stellt sich das, was im Osten jetzt passiert, als Auffangbecken für unseren westlichen Konsumschrott dar, inklusive Autos. Aber man darf sich nicht darüber hinwegtäuschen, daß das nur einen kurzen Zeitraum so gehen kann. Wenn das Bedürfnis erfüllt ist, stockt auch das.

Aus einer ökologisch angetriebenen Verkehrsdiskussion in Bonn ist inzwischen aber eine rein finanztechnisch motivierte geworden. Auf den deutschen Vereinigungsprozeß wird verkehrspolitisch nach „Schema F“ reagiert.

Das ist richtig. Aber es handelt sich um ein Pendel, das gerade jetzt zurückschlägt. Das war auch nicht anders zu erwarten. Es geht ja zunächst um die Befriedigung sehr oberflächlicher Bedürfnisse. Und natürlich sind die Haie sofort an Ort und Stelle und versuchen, gewinnträchtige Investitionen zu landen.

Ich bin aber überzeugt davon, auch das geht höchstens drei oder vier Jahre so weiter. Auf alle Fälle wird dieser Zeitraum kürzer sein als etwa zur Entwicklung eines neuen Autotyps nötig ist. Ein Industrieunternehmen, das sich jetzt voll einrichtet auf das aktuelle Bedürfnis in den neuen Bundesländern, sich mit den gängigen und veralteten Konsumgütern vollzustopfen, fällt sicher bald kräftig auf die Nase. In ein paar Jahren, wenn so ein Unternehmen dann gerade seine Kapazitäten dafür erweitert hat, ist dieser Boom vorbei. Überkapazitäten gehören aber in der Wirtschaft zu den häufigsten Auslösern für Firmenpleiten.

Die Verkehrspolitiker versprechen etwas ganz anderes. Sie sagen, wir müssen die mit der Öffnung der Grenzen enstandenen Bedürfnisse akzeptieren. Außerdem würde Deutschland auch in Ost-West- Richtung das europäische Transitland und deshalb müßten wir breitere und mehr Straßen bauen. Wie sieht Ihre Alternative aus für dieses drängende Teilproblem?

Auf jeden Fall muß die Bahn ausgebaut werden. Dabei darf man nicht den Schwerpunkt auf Hochgeschwindigkeitszüge legen, denn dann liegt die Fläche brach. Mit dem Straßenverkehr wird es so unter keinen Umständen weitergehen. Es ist auch absolut sicher, daß wir den Ausstoß von Emissionen aus fossiler Verbrennung reduzieren müssen.

Dieser Trend ist weltweit. Eines Tages wird man sagen: Hätten wir doch damals mehr auf öffentliche Verkehrsmittel gesetzt, statt Straßen zu erweitern. Es ist im übrigen bekannt, daß der Schnellstraßenbau den Verkehr nur ganz kurzfristig entlastet und statt dessen sofort mehr Autos anzieht. Nehmen Sie den St. Gotthard-Tunnel: Den möchte man am liebsten wieder zuschütten. Bei all diesen Autobahnprojekten wird einfach zu kurz gedacht. Um den Verkehr, der über sie läuft, vor und hinter der Autobahn wieder auffangen und verteilen zu können, müßte praktisch das ganze Land zubetoniert werden.

Könnte der Neuanfang in der früheren DDR auch Auslöser für einen — optimistisch formuliert — qualitativen Sprung werden?

Natürlich. Doch der kann wiederum nur durch Denken kommen, durch ein neues Bewußtsein. Und ich habe den Eindruck, daß sich einiges tut. Nach der Offenlegung der vorher versteckten Umweltproblematik sind viele Leute doch sehr erschrocken. Und die melden sich jetzt auch in der Politik zu Wort. Sie sagen, wir brauchen eine neue Sicht der Planung, wir müssen weg von der reinen Symptombehandlung, sonst hinken wir der Entwicklung immer nur hinterher.

Ist es nicht eher so, daß es in der ehemaligen DDR zunächst ein jähes Entsetzen gab über das Ausmaß der ökologischen Zerstörungen, diese erste Reaktion aber längst überdeckt worden ist durch andere Probleme und die neuen Konsummöglichkeiten, gerade bei den Autos. Die Entwicklung des Autoverkehrs gibt wenig Anlaß zum Optimismus.

Aber das kann nur ein ganz kurzer Boom sein.

Man kann diesen Boom zeitlich dehnen, indem man die Straßen-Infrastruktur ausbaut.

Das ist natürlich richtig. Es sind sicher viele Kräfte am Werk, die das versuchen. Vor der Vereinigung gab es in der Automobilindustrie international einen wachsenden Innovationsdruck. Während wir an unserer Studie arbeiteten, war das deutlich zu spüren. Man dachte intensiv nach über neue Produktionsanlagen und darüber, die Produktion grundsätzlich umzustellen. Dieser Druck ist erst mal weg. In der Industrie ist mancher heilfroh, daß er die bestehenden Anlagen jetzt erst mal weiterlaufen lassen kann, indem er auch die herkömmlichen Produkte in den Osten transportiert. Doch das ist kein Dauerzustand. Die Situation wird sich im Gegenteil dadurch zuspitzen, daß der Innovationsdruck nun nach drei oder vier Jahren in verschärfter Form wieder da sein wird. Dann ist die Umstellung noch schwieriger.

Es gibt seit vielen Jahren eine Kontroverse über den Anstoß für eine „umweltverträgliche Zivilisation“. Die einen sagen, „jeder muß bei sich selbst beginnen“, die anderen: „ohne grundsätzlich veränderte politische oder wirtschaftliche Rahmenbedingungen läuft gar nichts“. Was sagt der Systemtheoretiker Vester dazu?

Das ist eine Denkweise, die ich als zweiwertiges Denken bezeichne. Wer so denkt, kann nicht bis drei zählen. Ein Entweder-Oder gibt es nicht. Im Gegenteil, beides gehört zusammen und bedingt einander: Wenn sich die Rahmenbedingungen nicht wenigstens ein bißchen verändern, habe ich kein Interesse, mein individuelles Verhalten zu korrigieren. Umgekehrt werden sich die Rahmenbedingungen sicher nicht verändern, solange die Leute denselben alten Stiefel denken. Man kann auch hier nur im System denken.

Haben Sie den Eindruck, daß wir hier gesellschaftlich an einem Wendepunkt angelangt sind?

Das ist, über die Jahrzehnte betrachtet, eher ein Hin- und Herschwingen. Man muß deshalb nicht unglücklich sein, wenn mal etwas den Bach runter geht, sei es bei den öffentlichen Rahmenbedingungen oder im individuellen Verhalten der Leute. Eine solche Bewegung ist zwangsläufig verbunden mit bestimmten negativen Rückkopplungsmechanismen und stößt deshalb schnell an Grenzen. Es wird dann Proteste geben, Demonstrationen und kritische Berichterstattung in den Medien. Sobald dann die Politik beispielsweise mit einer Umweltauflage reagiert, läßt der öffentliche Druck nach, die Kritik ist besänftigt.

Das ist eine Art Regelmechanismus, den man beobachten, aber auch nutzen muß im Sinne der Erhaltung unseres Lebensraums. Über die letzten 20 Jahre hat dieses Spiel doch insgesamt — auch und besonders bei einigen Firmenchefs — zu einem unerhörten Fortschritt im Bewußtsein der Menschen geführt. Und der ist im Grunde irreversibel. Deshalb sehe ich optimistisch in die Zukunft. Interview: Gerd Rosenkranz