: Heißt Waffenruhe Appeasement?
■ Über die Aporien der eindeutigen Kriegsposition DEBATTE
Tertium non datur. Fortsetzung des Krieges oder Waffenstillstand. Einen dritten Weg gibt es nicht. Jedenfalls nicht sofort. Wer nicht als radikaler Pazifist jede kriegerische Lösung schlechthin ablehnt, wird die kurzfristigen und langfristigen Risiken und die politischen Konsequenzen, die die beiden Optionen mit sich bringen, gegeneinander abwägen müssen.
Die Forderung nach einem Waffenstillstand bedeutet zunächst den Appell, eine Feuerpause einzulegen, diesen Krieg zu unterbrechen, diplomatischen Initiativen Raum zuzugestehen. Sie bedeutet kein Ende des Krieges, auch wenn damit die Hoffnung darauf verknüpft ist. Diese Differenzierung ist insofern wichtig, als die Option für den Waffenstillstand auch die Rückkehr zur kriegerischen Option einschließt, sowie das Embargo die militärische Option für die Zukunft einschloß, wenn auch nicht erzwang. Ein Waffenstillstand bedeutet implizit, daß Saddam Hussein — horribile dictu — sein Vernichtungspotential zunächst behält und auch Kuwait, dies ist die logische Folge des Verzichts auf „Zwangsabrüstung“. Nach zwei Wochen Krieg muß ein neuer Versuch einer politischen Lösung erzwungen werden. Zu den vielen Problemen, die früher oder später in Verhandlungen angegangen werden müssen, gehören auch die Abrüstung des Irak und anderer Staaten der Region, der Abbau von Massenvernichtungsmitteln.
Wer dies vorschlägt, der handelt sich schnell den Vorwurf der Naivität ein, zumal Saddam Hussein zweifellos ein besonders skrupelloser Diktator ist. Von daher bietet sich auch der Verweis auf die Politik des Appeasement an, die ihren Gipfel im Münchner Abkommen von 1938 fand. Doch wird dabei übersehen: Chamberlain und Daladier akzeptierten die „Wehrhoheit“ des Deutschen Reiches, die Remilitarisierung des Rheinlandes, den „Anschluß“ Österreichs, den von Hitler unter Bruch geltender Verträge geschaffenen Status quo also, und konzedierten Hitlerdeutschland dazu noch prophylaktisch die mehrheitlich von Sudetendeutschen besiedelten Randzonen der Tschechoslowakei. Diejenigen hingegen, die heute den Waffenstillstand fordern, verweigern die Anerkennung des fait accompli des annektierten Kuwaits und fordern im Einklang mit der UNO-Resolution die Wiederherstellung des völkerrechtlichen Status quo ante. Dieser Unterschied ist belanglos, wenn man den Kriegsgegnern Kapitulation unterstellt, er ist jedoch relevant, wenn man einer politischen Lösung eine Chance einräumt.
Der UNO-Sicherheitsrat hat die Wiederherstellung der Souveränität „mit allen nötigen Mitteln“ autorisiert. Die Zerstörung des irakischen Vernichtungspotentials und der Sturz Saddam Husseins sind auch begrüßenswerte Ziele, durch die UNO- Resolution legitimiert sind sie nicht. Mit der Verschiebung des vorrangigen Ziels von Kuweit nach Bagdad hat sich gleichzeitig die UNO aus diesem Krieg faktisch verabschiedet. Die Kommandozentrale liegt im Pentagon, im UNO-Glaspalast gibt es nicht einmal eine permanente Tagung des Sicherheitsrates, wie man es eigentlich bei der Dramatik der Auseinandersetzung erwarten könnte. Die Politik des Embargo gegen den Irak zwecks Wiederherstellung der kuwaitischen Souveränität wurde auf Druck der USA aufgegeben, die schon längst auf eine Zerschlagung des irakischen Kriegspotentials zusteuerten. Dafür wiederum haben die Vereinigten Staaten verschiedene Gründe geopolitischer Natur. Einer von ihnen ist die Sicherheit Israels.
Dem Schutz von Juden vor deutschem Gas aus irakischen Waffen kommt zweifellos zentrale Bedeutung zu. Doch nicht erst seit dem 15. Januar. Saddam Hussein hat die Ausrottung Israels mit der chemischen Bombe schon vor einem Jahr angekündigt und andere arabische Diktatoren haben vor ihm die Vernichtung des Judenstaates versprochen. Wenn jetzt diese Gefahr mit der präventiven Zerschlagung des gesamten irakischen Militärpotentials möglichst schnell gebannt werden soll, bedarf dies angesichts der offensichtlich immensen Risiken und langfristigen politischen Folgen, die damit verbunden sind, schon einer besonderen Begründung. Die irakische Atombombe steht offenbar keineswegs kurz vor ihrem Einsatz. Saddam Hussein ist nicht in der Lage, Israel mit einem Gaskrieg entscheidend zu schwächen oder gar auszurotten. Damit soll nicht der mögliche Terror durch gasbestückte Scud-Raketen geleugnet oder auch nur heruntergespielt werden. Ob Israel bislang von einem Angriff mit Gas verschont geblieben ist, weil Irak die technischen Möglichkeiten gar nicht hat oder weil Saddam einen atomaren Gegenschlag Israels oder der USA fürchtet, ist umstritten. Ein irakischer Gasangriff im Bodenkrieg gegen die Truppen in Saudi-Arabien mag wahrscheinlich sein. Doch die Vernichtung Israels durch Gas, wie sie jetzt allenthalben beschworen wird, liegt weit jenseits der militärischen Möglichkeiten des Irak.
Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende, lautet die Devise der Kriegsbefürworter. Ein gewagtes Kalkül. Erstens ist völlig ungewiß, wieviel Zerstörung die Weiterführung des Krieges mit einer möglichen Eskalation zum Gift-, Umwelt- und Atomkrieg noch anrichten wird. Zweitens ist noch ungewisser, ob danach die Sicherheit Israels weniger bedroht ist als heute. Immerhin wurde Syriens Einbindung in die Allianz mit Waffenlieferungen erkauft, genauso wie einst die Einbindung des irakischen Diktators ins antiiranische Lager. Anders als Irak hat Syrien mit Israel eine gemeinsame Grenze, anders als Irak hat Syrien zudem territoriale Ansprüche an Israel, es fordert die Rückgabe der besetzten Golanhöhen. Der Libanon sowie der türkische Hatay sind auf den offiziellen Landkarten von Damaskus schon jetzt syrisches Staatsgebiet. Und Assad steht seinem Baath-Bruder in Bagdad in puncto Grausamkeit und Expansionsgelüsten kaum nach. Zu Zeiten, als der Westen Saddam noch hofierte, galt der Diktator von Damaskus neben Gaddhafi als Teufel par excellence. Und wenn nach diesem Krieg eines Tages die Wahhabiten-Diktatur von Saudi-Arabien, wie einst der persische Schah, wegen ihrer amerikafreundlichen Politik stürzen sollte, um einem radikaleren Regime Platz zu machen — auf wen werden sich dann all die Waffen richten, mit denen sich der Westen die Erlaubnis erkauft hat, im Lande des Propheten Truppen zu stationieren? Und sollten sich die USA Israels Stillhalten, das die Allianz möglicherweise vor einem Bruch bewahrt, tatsächlich mit dem Versprechen erkauft haben, ihr Plazet zu einer künftigen Nahostkonferenz zu verweigern, wird die Palästina-Frage weiter für politischen Sprengstoff sorgen, werden neue Kriege geführt werden, begrenzte und solche, die sich nicht begrenzen lassen.
Daß das säkulare Schreckensszenario eines Krieges zwischen der arabischen Welt und den Industrieländern unabhängig vom Ausgang dieses Krieges bereits näher gerückt ist, kann Saddam als einen ersten Sieg verbuchen — auch wenn er diesen Krieg nicht überleben sollte. Es bleibt tatsächlich nur die Spur der Vernunft. Die Einberufung einer Nahost-Friedenskonferenz mache keinen Sinn, argumentieren die Befürworter des Krieges, solange Saddam Hussein einen Abzug aus Kuwait nicht in Erwägung ziehe. Weshalb nicht ein Angebot Waffenstillstand und Konferenz ohne Vorbedingungen? Die USA haben dies bisher genauso abgelehnt wie Irak sich bisher weigert, über Kuwait zu reden. Weshalb soll der UNO-Sicherheitsrat angesichts des Ausmaßes der Katastrophe am Golf nicht von sich aus eine neue diplomatische Initiative ergreifen und den Krieg quasi „zurückerobern“? Zwischenzeitlich, das gebe ich zu, muß die Welt — auch Israel, das der Solidarität und massiven militärischen Unterstützung zu seiner Verteidigung bedarf — mit der beschränkten irakischen Gefahr, die von einem inzwischen gemeinhin dämonisierten Saddam Hussein ausgeht, leben. Das mit Atomwaffen vollgestopfte Europa hat 40 Jahre unter dem Damoklesschwert des Gleichgewichts der Abschreckung gelebt, bis abgerüstet wurde. Weshalb sollte eine arabische KSZE unter UNO-Schirmherrschaft es nicht in weniger Jahren schaffen, die irakische und weitere Gefahren einzudämmen und langfristig die Wahrscheinlichkeit zu mindern, daß das Schreckensszenario eines umfassenden Krieges zwischen Okzident und Orient Realität wird? Thomas Schmid
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