»Man fühlt sich nur noch verarscht«

■ Keiner der Ostberliner SEL-Angestellten weiß, wer seinen Arbeitsplatz in Zukunft behalten wird

Ost-Berlin Mit 900 Mark monatlich kommt die 29jährige Mutter dreier Kinder schon jetzt kaum über die Runden. Seit 15 Jahren arbeitet sie als Sekretärin im ehemaligen FAB- (Fernmelde-Anlage-Bau)-Werk in der Storkower Straße, über das seit Sommer letzten Jahres zu fünfzig Prozent die Standard Elektrik Lorenz AG (SEL) verfügt. Seitdem prangt ein Schild mit der Aufschrift »Rundfunk-Fernseh-Technologie — SEL« am Eingangstor, das sich gestern, wie jeden Nachmittag, zum Schichtende für die über tausend Angestellten öffnete. Ein Tag wie jeder andere war es deshalb aber noch lange nicht. Sie habe erst aus der Zeitung von der Auflösung des Betriebes gehört, erzählt die junge Sekretärin. »Ab April muß ich Kurzarbeit machen. Da bin ich dann ja schon eine sichere Kandidatin.« Was sie jetzt machen wird? »Was Neues suchen — aber das ist nicht so einfach, die Stelle meines Mannes ist auch bedroht!«

Keiner der Angestellten weiß etwas Genaues. »Jeden kann es treffen«, vermutet die resolute 50jährige Frau, seit 21 Jahren im Vertrieb des Werkes beschäftigt. In dem gestern erstmals von der Betriebsleitung verbreiteten Aushang habe auch nicht mehr gestanden als in den Zeitungen. »Unsere Brüder und Schwestern haben uns doch regelrecht auf die Nudel geschoben — man fühlt sich nur noch verarscht.« Eine neue Stelle brauche sie in ihrem Alter doch gar nicht mehr suchen — und selbst wenn sie übernommen werden würde, in der Tempelhofer Dienststelle wolle sie nicht arbeiten: »Die sagen doch dann, die Ostler sind schuld, wenn bei denen Leute entlassen werden — da bin ich lieber arbeitslos.«

Volker Möbius, Betriebsratsvorsitzender des Ostberliner Elektronikwerkes, glaubt nicht an eine solche Konkurrenzsituation. Zwar verlieren durch die von der Stuttgarter SEL-Zentrale anvisierte »Umstrukturierung« (siehe taz von gestern) 1.291 Westberliner und allein in dem Ostberliner Anlagenwerk 457 Angestellte ihren Arbeitsplatz. Die 237 Beschäftigten, die SEL angeblich aus Ost-Berlin nach Tempelhof übernehmen möchte, und die knapp 400 Monteure — deren Arbeitsplatz aber auch nur bis Ende des Jahres gesichert ist —, haben jedoch laut Möbius »ein ganz anderes Leistungsprofil«. Mit der in Tempelhof praktizierten Fertigung habe das auf Montage und Vertrieb spezialisierte Ostberliner Werk nichts zu tun. In diesen Bereichen werde wohl auch tatsächlich keine Konkurrenzsituation entstehen, vermutet ein Angestellter der Personalabteilung — sehr wohl aber auf der Verwaltungsebene: »Zwei Verwaltungen werden sie wohl kaum übernehmen.«

Doch auch der 40jährige Ingenieur hält seine Stelle für vakant. »Ich rechne täglich mit Kurzarbeit.« Kommenden Montag um 10 Uhr will der Stuttgarter SEL-Vorsitzende Zeidler etwas Licht in das Dunkel der allgemeinen Verunsicherung tragen und zumindest die Tempelhofer Belegschaft über die geplante Umstrukturierung informieren. maz