: Göttinnendämmerung am Großen Stern
■ Die 700 Zentner schwere Goldelse droht von der Siegessäule zu stürzen/ Großer Stern im Tiergarten abgesperrt/ Autoverkehr brach zeitweilig zusammen/ City völlig verstopft/ Starker Wind kann die Viktoria-Statue vom Sockel wehen
Berlin. Oh Göttin, welche Schmach: Gut zwei Wochen nach einem mißglückten Sprengstoffanschlag ist Viktoria auf der Siegessäule nun doch noch vom Absturz bedroht. Gestern nachmittag um 15.45 Uhr sperrte die Polizei den Großen Stern und alle Zufahrtsstraßen zu dem Platz im Tiergarten, auf dem sich die goldglänzende Göttin auf der 60 Meter hohen Siegessäule in den Himmel erhebt. Nach der Sperrung kam der Autoverkehr in einem Umkreis von etwa fünf Kilometern zum Stehen. Über eine Stunde lang sei die ganze City »verstopft« gewesen, hieß es bei der Polizei.
Der Tiergartener Baustadtrat Horst Porath (SPD) hatte die Sperrung gestern verfügt, nachdem Experten unter dem Rock der Goldelse einen deutlich sichtbaren Riß in einem Stützpfeiler entdeckt hatten. »Theoretisch«, so Porath, könne die acht Meter hohe und 700 Zentner schwere Statue bei Böen ab Windstärke fünf herabstürzen. Diese Gefahr ist durchaus real: Gestern stellten die Meteorologen der Freien Universität Windgeschwindigkeiten bis zu Stärke sechs fest. Ähnlich heftig soll der Wind auch heute und morgen wehen.
Am 16.Januar hatten die »Revolutionären Zellen« einen Sprengstoffanschlag auf die Siegesgöttin verübt, um gegen den Golfkrieg zu protestieren. Die Göttin sei ein Symbol, »das den Krieg und die Männergewalt verherrlicht«, hieß es in einem Bekennerschreiben. Viktoria blieb trotzdem erstmal auf dem Sockel, weil sich die Sprengladung nicht vollständig entzündet hatte. Allerdings hatte sich ein Stützpfeiler unter Viktorias Rock verformt. In den letzten Tagen waren Fachleute damit beschäftigt, diese Stütze geradezubiegen. Vermutlich sei bei diesen Arbeiten der jetzt entdeckte Riß entstanden, erklärte Porath. Mit einer Manschette um die Stütze wollen die Fachleute die Standfestigkeit der Göttin bis zum Sonntag wiederherstellen.
Kaiser Wilhelm I. hatte Säule samt Göttin 1873 eingeweiht. Sie sollte die preußischen Siege über Dänemark, Österreich und Frankreich verherrlichen. Ursprünglich stand Viktoria vor dem Reichstag, die Nationalsozialisten verpflanzten sie zum Großen Stern. Entschieden antimilitaristische Folgen könnte das Wettergeschehen an diesem Wochenende entfalten: Weil der Wind aus Richtung Südosten weht, müßte Viktoria im Fall eines Sturzes in Richtung Nordwesten plumpsen. Dort stehen die steinernen Denkmäler der Generäle Moltke und Roon — ganz ungeschützt vor dem Angriff einer Siegesgöttin im Tiefflug. hmt
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen