: Ideologische Vorbehalte
Material aus Stalins Archiven wird in der UdSSR nur zögernd oder gar nicht freigegeben ■ Von Vera Tolz
Über Stalins Geheimdienstchef Lawrentij Berija stand kürzlich in einer sowjetischen Historikerzeitschrift folgendes zu lesen: „Viel ist geschrieben worden — und gleichzeitig auch fast nichts. Viel — das sind Erinnerungen, Nacherzählungen und Anekdoten durch Dritte und alle möglichen Übertreibungen, fantastische Geschichten und Gerüchte. Fast nichts — damit meinen wir die Veröffentlichung von Dokumenten aus den Archiven.“1
Dieses Urteil trifft auf nahezu alle derzeitigen historischen Veröffentlichungen in der Sowjetunion zu, auch auf Arbeiten über die Ära des Stalinismus. Zur Zeit werden vor allem Erinnerungen publiziert — und man soll den Wert dieses Materials auch nicht unterschätzen: In ihm ist die Atmosphäre des Terrors eingefangen, und es präsentiert nicht selten neue Fakten. Die Tatsache aber bleibt, daß nur sehr wenig Archivmaterial bisher an die Öffentlichkeit gelangt ist. Was publiziert worden ist, lohnt jedoch in jedem Fall ein aufmerksames Studium, denn schließlich sind dort die wichtigsten Elemente einer historischen Analyse des Stalinismus zu finden.
Auffällig ist bereits, daß keine umfassende oder ausdrückliche Planung für die Öffnung und Sichtung dieser Archive existiert. Was der Öffentlichkeit an Dokumenten zugänglich gemacht wird, bleibt höchstens selektiv und wird von KGB und hohen Parteifunktionären kontrolliert. Viele Dokumente werden nur in gekürzter Form und ohne genaue Quellenangaben veröffentlicht.
Archivmaterial in der Zeitschrift 'Istwestija TsK KPSS‘
Fast jede historisch-akademische Zeitschrift in der UdSSR hat inzwischen eine Rubrik, in der Dokumente aus den Archiven veröffentlicht werden. Die wichtigste Zeitschrift auf diesem Gebiet ist die 'Istwestija TsK KPSS‘, herausgegeben vom Zentralkomitee der Partei. Sie ist berechtigt und beauftragt, Material aus den Archiven des Zentralkomitees, des zentralen Parteiarchivs im Institut für Marxismus-Leninismus und sogar aus den KGB-Archiven zu veröffentlichen. Zu den offiziellen Mitherausgebern gehören sowohl Michail Gorbatschow als auch der Historiker Georgii Smirnow, Direktor des Instituts für Marxismus-Leninismus. Leider ist diese Zeitschrift den Erwartungen jedoch nicht gerecht geworden.
Als Beispiel sei die Veröffentlichung von Dokumenten über den Zustand der UdSSR am Vorabend des Zweiten Weltkriegs genannt. In ihrer ersten Ausgabe von 1990 begann die Zeitschrift mit der Veröffentlichung ausgewählter Dokumente, deren Inhalt wenig mehr zu Tage förderte als das, was in anderen Publikationen bereits ausführlich behandelt worden war: Informationen über Stalins Repression des Oberkommandos und seine Weigerung, diplomatischen und geheimdienstlichen Erkenntnissen über Kriegsvorbereitungen Deutschlands gegen Rußland Glauben zu schenken. Selbst die vorgelegte Auswahl enthielt wichtige Auslassungen. Sorgfältig wurde der Abdruck von Dokumenten vermieden, die mehr Licht in den gesamten Komplex sowjetischer Außenpolitik zu dieser Zeit bringen können. So fehlt jegliche Dokumentation über den sowjetisch-finnischen Krieg. Stattdessen bringt diese Ausgabe der Zeitschrift an anderer Stelle einen Artikel von General Mikhail Moisjew, Personalchef der sowjetischen Streitkräfte, mit dem Titel Lehren aus dem sowjetisch-finnischen Krieg; dabei gibt der Autor an keiner Stelle Archivquellen an.2
Dieses Beispiel scheint eine allgemeine Tenndenz der sowjetischen Medien zu bekräftigen: Den außenpolitischen Themen wird weniger Glasnost eingeräumt als der Innenpolitik.
Berichterstattung über die Arbeit der Politbüro-Kommission zum Stalinschen Terror
1987 wurde unter dem Vorsitz von Alexandr Jakowlew eine Kommission des Politbüros gebildet, die sich mit „zusätzlichen Studien des Materials über die Repression in den dreißiger und vierziger Jahren und am Beginn der fünfziger Jahre“ befassen sollte; die Zeitschrift 'Istwestija TsK KPSS‘ hat regelmäßig Details aus diesen Studien veröffentlicht. Offiziell behauptet diese Kommission, daß sie unbegrenzten Zugang zum Archivmaterial über alle Personen habe, deren Fälle einer neuen Untersuchung unterzogen werden. In Presseinterviews haben Mitglieder dieser Kommission allerdings eingeräumt, daß die ihnen vorgelegten Dokumente vom KGB ausgewählt wurden, daß dem Geheimdienst also offenbar in dieser Angelegenheit eine mächtige Position zugestanden wird.3 (Der Chef des KGB, Wladimir Krutschkow, ist ebenfalls Mitglied der Kommission). Noch bemerkenswerter aber ist, daß die von der Kommission ausgewerteten Dokumente selbst bisher noch nicht in der 'Istwetija TsK KPSS‘ erschienen sind. Die Zeitschrift hat lediglich „historische Anmerkungen“ des Instituts für Marxismus-Leninismus, des Partei-Kontrollkomitees, der sowjetischen Staatsanwaltschaft und des KGB veröffentlicht, aber nur sehr selten sind dort Archivquellen angegeben, in erster Linie das Zentrale Parteiarchiv im Institut für Marxismus-Leninismus.
Berichte in der sowjetischen Presse haben zudem aufgezeigt, wie stark diese Kommission durch politische und ideologische Vorbehalte belastet bleibt. Der Fall des 1934 ermordeten Parteichefs von Leningrad, Sergej Kirow, ist dafür ein Beispiel.
Die Ermordung Kirows ist bereits 1960 ein erstes Mal durch eine Kommission des Zentralkomitees unter Chruschtschow untersucht worden. Obwohl die Kommission damals zu dem Schluß kam, daß genügend Beweismaterial auf Stalin als Verantwortlichen für dieses Verbrechen zielte, beschloß die Parteiführung der Zeit, es sei politisch unklug, dieses Ergebnis öffentlich zu machen.4 Das von der damaligen Kommission zusammengetragene Material verschwand in den Archiven der Parteikontrollkommission des Politbüros (und aus keiner Abteilung der Politbüroarchive sind bis heute Dokumente in die Presse gelangt).
Man war davon ausgegangen, daß die neue Kommission zu dieser Materialsammlung Zugang haben würde, doch ein Leserbrief in der Wochenzeitschrift 'Argumenty i fakty‘ läßt vermuten, daß dies nicht ganz der Wahrheit entspricht. Die Schreiberin dieses Briefs, Olga Schatunowskaja, war früher Mitglied des Parteikontrollkomitees und auch an der Kommission von 1960 beteiligt. Sie habe im Juni 1989 herausgefunden, schreibt sie, daß die wichtigsten Dokumente, in denen Stalins Beteiligung an der Organisation des Kirow-Mordes nahegelegt wird, fehlten oder durch gefälschte Dokumente in dem oben genannten Politbüroarchiv ersetzt worden seien. In ihrem Brief listet sie diese Dokumente detailliert auf.5
Außerdem behauptet Olga Schatunowskaja, daß das einzige im letzten Jahr von 'Istwetija ZsK KPSS‘ publizierte Dokument über die Ergebnisse der Kommission von 1960 gefälscht sei.6 In diesem Dokument geht es um die Wahlen auf dem 17.Parteitag 1934 zu den zentralen Parteikörperschaften. Die Schlußfolgerungen der Kommission hierzu sind deshalb so wichtig, weil auf diesem Parteitag angeblich von Delegierten die Möglichkeit erörtert wurde, Stalin als Generalsekretär durch Kirow zu ersetzen. Obwohl Kirow dieses Angebot, wie es heißt, zurückgewiesen hat, beschloß Stalin sofort, sich dieses gefährlichen Rivalen zu entledigen.
Ein Mitarbeiter der 'Literaturnaja gazeta‘, Georgii Tselms, hat versucht, die von Olga Schatunowskaja aufgestellten Behauptungen genauer zu recherchieren. Die von Mitgliedern des Parteikontrollkomitees ausgestreuten Verleumdungen, daß hier die Phantasie mit der alten Frau durchgegangen sei, läßt er nicht gelten.7 Und tatsächlich wird Olga Schatunowskajas Version unterstützt durch den Bericht über die Untersuchung des Kirow-Mordes, den kein geringerer als Aleksandr Jakowlew, der jetzige Vorsitzende der neuen Politbürokommission, vor kurzem gab. In einem Interview mit der 'Komsomolskaja prawda‘ gab
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Jakowlew zu, daß Dokumente, die Stalins Verwicklung in diesen Mord nahelegen, bewußt vernichtet worden seien. Und obwohl er in diesem Interview zu bedenken gibt, daß Stalins Schuld durchaus nicht eindeutig bewiesen sei, gesteht er doch auch zu, daß seine Kommnission tatsächlich nicht ein einziges Dokument zu diesem Fall bisher freigegeben habe.8
Die Dokumente über das Massaker von Katyn
Interessierter STellen, besonders die politische Führung, der KGB und die parteibestallten Archivdirektoren versuchen also immer noch zu verhindern, daß der Mantel des Schweigens über bestimmten historischen Themen gelüftet wird. Dies bedeutet, daß viele Dokumente nur nach hartnäckigen Aufklärungsanstrengungen der Medien endlich ans Licht kommen. Das bekannteste Beispiel hierfür ist die Veröffentlichung von Dokumenten aus den Akten der Hauptverwaltung des NKWD über Kriegsgefangene und Internierte.
Diese Schriftstücke beweisen die Verantwortung des NKWD für den Massenmord an mehr als viertausend polnischen Offizieren in den Wäldern von Katyn nahe Smolensk. Bis zu dieser Veröffentlichung durch die Moskauer Historikerin Matalya Lebedewa in 'Mesdunarodnaja sisn‘ war die sowjetische Seite der russisch-polnischen Historikerkommission, die seit 1987 „dunkle Punkte“ in der Geschichte der sowjetisch-polnischen Beziehungen aufklären sollte, bei ihrer Behauptung geblieben, daß in sowjetischen Archiven keinerlei Dokumente zu finden seien, die als Beleg für ein Verbrechen des NKWD gelten könnten.9 Selbst in diesem Fall noch, in dem Lebedewa Akten des NKWD benutzte, hatte man ihr offenbar untersagt, spezifische Hinweise auf den NKWD-Fundus zu geben. Da sie ansonsten sehr präzise Angaben für die Schriftstücke aus allen anderen Archiven macht, fällt diese Auslassung besonders auf.10
Ähnlich verhielt es sich mit der russischen Version der geheimen Zusatzprotokolle zu dem von Ribbentrop und Molotow unterzeichneten Nichtangriffspakt zwischen Nazi-Deutschland und der Sowjetunion. Moskau hatte immer behauptet, solche Dokumente seien Fälschungen und in keinem sowjetischen Archiv vorhanden. Schließlich jedoch wurden die russischen Kopien in dem Archiv des sowjetischen Außenministeriums „gefunden“ und in der englischsprachigen Ausgabe der Zeitschrift des Außenministeriums, 'Vestnik‘, veröffentlicht — Monate, nachdem eine Sonderkomission des Volksdelegiertenkongresses erklärt hatte, die Kopien der deutschsprachigen Originale, die seit längerem im Westen bekannt waren, seien in der Tat echt.11
Die Berichte von Journalisten und Forschern, die versucht haben, zu heiklem Archivmaterial Zugang zu bekommen, lesen sich oft wie Detektivgeschichten. Ein Journalist der Jugendzeitschrift 'Sobesednik‘ versuchte etwa, im Institut für Marxismus-Leninismus herauszufinden, ob in irgendeinem Parteiarchiv das Original des Briefs vom 19.März 1922 vorhanden sei, in dem Lenin die verstärke Unterdrückung der russisch- orthodoxen Kirchenmänner und Gläubigen forderte.12 Dieser Journalist wurde mit seiner Frage von Pontius zu Pilatus herumgeschickt. Lange Zeit stritt das Institut rundweg ab, daß ein solcher Brief überhaupt existiere; im April 1990 jedoch gab es nach, bestätigte die Echtheit des Dokumentes und veröffentlichte es ohne Kommentar in 'Istwestija TsK KPSS‘.13
Für die mangelhaften Veröffentlichungen aus den Archiven der UdSSR gibt es viele Gründe. Zum einen haben sowohl die Parteiführung als auch der KGB ihre höchst eigenen Gründe dafür, bestimmte Materialien weiterhin geheim zu halten. Zum anderen geht die Öffnung der sowjetischen Archive auch aus bürokratischen Gründen nur sehr langsam vonstatten. Und ein dritter Grund ist sicher, daß viele Akademiker, die über die Sowjetunion arbeiten, noch nicht recht wissen, wie man die Archive am besten nutzt.
Eine Verbesserung dieser Situation jedoch ist möglich, vor allem durch die Aktivitäten der „Memorial“-Gesellschaft. Diese Gesellschaft sammelt Material über die Opfer Stalins, und es ist ihr bereits gelungen, Zugang zu den Akten der sukzessiven Geheimdienste über die sie interessierenden Fälle zu bekommen. Nicht wenige ihrer Funde sind veröffentlicht worden, allerdings zumeist entweder in der lokalen Presse oder in Publikationen ihrer eigenen Organisationen, die für westliche Historiker leider nur schwer zugänglich sind.14
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