Bulgarien: Trotz freier Preise leere Geschäfte

Sofia (taz/dpa) — Mit beißendem Zynismus meldete sich gestern morgen 'Radio Sofia‘ und bat die Zuhörer, doch bitte vor die Kaufhäuser und Lebensmittelgeschäfte zu eilen. Wenn man schon nichts kaufen könne, so sollte man wenigstens das „Programm des Überlebens und der Hoffnung“ bewundern. Oder sei man etwa anderer Meinung? Glaube man etwa immer noch daran, die Hauptfeinde des Sozialismus, der Frühling, der Sommer, der Herbst und der Winter, seien auch die Hauptfeinde der Demokratie? Andere Zeiten, andere Feinde: Es liegt doch nur an uns, am Volk, an den faulen Arbeitern, den schlampigen Bauern, daß man immer mehr auf eine Hungerkatastrophe zueile, so der Kommentator.

Am Freitag begann in Bulgarien die Preisreform, wichtigster Bestandteil des von der bulgarischen Regierung selbst so genannten „Programms des Überlebens und der Hoffnung“. In ganzseitigen Zeitungsinseraten hatte die große Regierungskoalition von Altsozialisten und bürgerlichen Parteien propagiert, ab 1. Februar trete in Bulgarien das ein, was im letzten Juli mit dem Währungsschnitt in der DDR geschah: Über Nacht werde zwar alles um das Fünf- bis Zehnfache teurer, dafür aber seien die Läden voll und das Angebot größer denn je. Hohle Vesprechungen, denen kein Bulgare auch nur ein Körnchen Glauben schenkte.

Mit Recht: Wie eh und je war es am Freitag äußerst schwierig, auch nur ein frisches Brot und den traditionellen Rahmjoghurt zu ergattern. In den Metzgereien suchte man vergeblich nach Fleisch. Alles wie gewohnt, nur die Preisschilder waren ausgewechselt — vor leeren Kühltruhen. Ein Kilogramm Lamm ist von bisher knapp hundert Leva hinaufgeklettert auf 960 Leva, doch selbst auf dem Schwarzmarkt nicht zu erhalten. Und auch dort nur ein mageres Angebot: Äpfel, Karotten, Geflügel. So gilt vorerst nur auf dem Papier, was die Preisexplosion mit bisher ungekannter Wucht den Menschen beschert: Brot, Getreide, Milchprodukte und Fleisch der billigen Sorte kosten um das Fünffache mehr als bisher. Benzin, Öl, Kohle, aber auch die Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln wie Bahn, Bus oder Straßenbahn wird gleich zwölfmal teurer. Als Sozialausgleich ist vorgesehen, alle Gehälter und Renten um das Doppelte anzuheben. So wird unter dem Strich noch viel weniger im Geldbeutel sein als jetzt.

Die Regierung unter dem Ex-Dissidenten Popow argumentiert, die Freigabe der Preise sei absolut vordringlich: Sonst gebe es keine neuen Auslandskredite. Seit die alte Regierung vor einem Jahr alle Zinsen und Tilgungszahlen einseitig ausgesetzt hat, liegt das Land faktisch unter einer internationalen Kreditsperre. Die Staatsverschuldung beträgt derzeit elf Milliarden Dollar.

Doch ohnhin durchlebten die BulgarInnen in den letzten zwölf Monaten eine über hundertprozentige Inflation — ohne Lohnausgleich. Offiziellen Angaben zufolge ernähren sich von zehn Millionen Einwohnern bereits an die hunderttausend aus Mülltonnen; längst kein Geheimnis mehr: Für manchen beträgt die Tagesration nicht mehr als ein angeschimmeltes Brot. Menschen, die älter als 70 Jahre sind, werden in bulgarischen Kliniken gar nicht mehr behandelt. Und die Zeitungen warnen vor einer drohenden Hungersnot, sollte der Winter noch kälter werden.

Frieren müssen die meisten ohnehin schon. Alle drei Stunden wird für eine Stunde der Strom abgeschaltet; die Zimmerheizungen sind, wo die Kraftwerke überhaupt noch laufen, auf 15 Grad gesenkt. Ölimporte kann sich der Staat wegen des Devisenmangels nicht mehr leisten, die Lager sind fast leer. Und die Öllieferungen im Wert von 1,2 Milliarden Dollar, mit denen der Irak seine Schulden gegenüber Bulgarien abbezahlen wollte, sind selbstverständlich ausgeblieben. Roland Hofwiler