Der Aufstieg zum prominenten Frisör

Tagträume sind geheimer als Nachtträume  ■ Von Ursula März

Tagträumer kann man erkennen. Von nahem am angehaltenen Blick, von weitem an der stolpernden Lebenspraxis. Sie sind nicht richtig bei der Sache.

Tagträume sind geheim. Sie sind geheimer als Nachtträume und werden viel seltener erzählt. Sie verraten etwas, wofür man sich eher schämt: den Kontrast zwischen dem Gelebten und dem Verpaßten. Von den Farben der Tagtraumbilder kann man auf die Bereiche schließen, wo graues Leben herrscht.

Natürlich machen sich Tagträumer, die Spezialisten der mimischen Tarnung eines artifiziellen Doppellebens, ein bißchen lächerlich, wenn sie von ihren schmeichelhaften und größenwahnsinnigen Erfindungen erzählen. Alle, die ich nach ihren Tagträumen fragte, hatten eine unentschiedene Erzählweise. Als würden sie eine Kinderei beichten und sich zugleich mit einer Heldentat brüsten.

Das verschleierte türkische Schulmädchen, das sich auf dem Weg zum U-Bahnhof Mehringdamm einen griechischen Freund zulegt und eine Pferdefarm. Die betreiben sie gemeinsam in steppenähnlicher Balkanlandschaft. Die Stoffmenge, die in Wirklichkeit ihre Haare und ihren Körper in die Montur einer schwarzen Madonna sperrt, nimmt sie in den Tagtraum auf. Aber wie! Kopftuch, Mantel, langer Rock, alles kommt in Bewegung, löst und entfaltet sich, flattert beim Reiten wie eine Freiheitsfahne hinter ihr her.

Der Elektroingenieur, der sich vor den Gefahren eines Wochenendes im Bett verkriecht. Dort verwandelt er sich beim Blättern in Wohnmagazinen und Kochbüchern in einen strahlenden Gastgeber im Mittelpunkt festlicher Räume und herzlicher Tischgesellschaften.

Die Dreherin, die mit den Händen bei der Fabrikarbeit ist und mit den Gedanken auf Cap Kennedy. Sie ist im Tagtraum Astronautin und heißt Gina. Um Ginas Existenz herum gibt es schon viele Geschichten, in deren Ausbau und narrative Perfektionierung sie sich bis zu fünf von acht Arbeitsstunden am Tag versenkt.

Alles, was Gina auf dem Weg vom Wedding zur Nasa erlebt, ist nur inszenierter Füllstoff, der den Spannungsbogen des Tagtraumdrehbuchs verlängert, bis zur großartigen Schlußszene, dem emotionalen Höhepunkt, der die Träumerei schlagartig elektrisiert und in die Halluzination vertieft: Gina hat in ihrer Astronautenkapsel Platz genommen und wartet auf den Abflug zur Venus. Sie checkt zum letzten Mal die Instrumente, „mit wahnsinniger Aufregung, irrer Freude“. Sie hört den Countdown im Takt der Maschine, an der sie in Wirklichkeit sitzt.

Es ist ihr noch nie gelungen, im Tagtraum abzufliegen zur Venus. Jedesmal, Sekunden vor dem Start, schreckt sie auf. Über ein ungelöstes Problem im Dialog kommt sie nicht hinweg. Der Nasa-Chef tritt an die Raumkapsel, um ihr sein letztes Okay zu geben. Er ist salopp, ein freundschaftlicher Typ, und er sagte in der allerersten Version: „Ick wünsch' da allet Jute, Gina“, und sie hörte sofort den Mißklang der sprachlichen Kollision. Für Gelegenheitsträumer vielleicht nicht, aber für leidenschaftlich Weggetretene besteht die Lust am Tagtraum vor allem darin, reine Einbildungen wie echte Tatsachen zu behandeln, sich in eine Vision zu versteigen bei vollem Verstand, der Berliner Dialekt auf Cap Kennedy nicht zuläßt. Nachdem Gina es in vielen Tagträumen bis an die Spitze der Weltraumfahrt gebracht hat, wäre ihrer Erfinderin ein Kompromiß bei dem Abschiedssatz des Nasa-Chefs wie eine blöde Verkleinerung der transatlantischen Traumkarriere vorgekommen. Mal ließ sie ihn sagen: „Ich drück' dir die Daumen, Gina“, aber sie ist unschlüssig, ob es diese Redewendung im Amerikanischen überhaupt gibt. Und wenn sie die Landessprache der USA im Tagtraum einsetzt, geniert sie sich komischerweise sofort, als schaute und hörte ihr jemand zu.

Tagträume sind Vorratskammern für glückliche Sensationen, von denen man sich in schlechten Zeiten und miesen Momenten ernähren kann. Aber die Selbstversorgung bezieht einen beträchtlichen Teil ihrer Mittel vom Markt populärer Sehnsüchte. Jeder zweite Tagträumer ist ein Auswanderer.

Ein Schöneberger Friseur eröffnet, wenn er es mit übellauniger Kundschaft und monotoner Lockenwicklerei zu tun hat, in Gedanken ein Geschäft in einer amerikanischen mittelgroßen Stadt. Er schaltet von einer Sekunde zur anderen auf sein Wunschprogramm um und hat das Bild von diesem Laden und sich darin auf der inneren Leinwand: ein kleiner Raum mit fünf Frisierplätzen, schwarz-beige gekachelt. Kein überflüssiger Gegenstand, kein Firlefanz, nichts, was nicht unbedingt gebraucht wird für Handwerk und puristische Eleganz, darf sich in die Erfindung schmuggeln. Sie ist ein radikaler europäischer Gegenentwurf zur Denver-Ästhetik. Diese wird vom amerikanischen Frisör auf der gegenüberliegenden Straßenseite verkörpert.

Der kommerzielle Kleinkrieg, den der Tagtraum nun entfacht, wird geschürt von Gefühlen, die der Schöneberger seinen realen Frisörkollegen in Charlottenburger Kudamm- Nähe gegenüber hegt. In Amerika stellt er die protzige Konkurrenz spielend in den Schatten. Die Kunden begreifen schnell, daß es bei ihm solid, bescheiden und pünktlich zugeht. Sie wechseln auf die deutsche Seite und stehen nun vor seinem Terminkalender Schlange.

Der Aufstieg zum prominenten Frisör, vor dem die amerikanischen Nachtschwärmer respektvoll zurückweichen, wenn er am Feierabend durch Bars und Diskos flaniert — auch dort: Plüsch und Plunder, von denen er absticht — ist gemacht. Wie es nun zugeht, daß Liza Minelli ihn in ihren engsten Bekanntenkreis zieht, wird im Tagtraum szenisch nicht genau dargestellt und nicht begründet. Aber es ist so: Einladung nach Malibu zu einem Gartenfest in Lizas Luxusbungalow!

Die Szenen, die nun folgen, sind betörend — Sektkelche und Palmen spielen eine Rolle —, und sie sind exklusiv. Nie verschleudert der Frisör sie an die Bewältigung notorischer Frustrationen. Dafür ist der Geschäftstagtraum da. Die Malibu-Geschichte aber, das hohe C unter seinen Tagträumen, hebt er zur Verschönerung der kleinen Momente auf, die den Alltag um eine Nuance erträglicher machen.

Während der Kaffeepause zwischen zwei Kunden zum Beispiel oder beim Nachhauseweg von der Grunewald- in die Bamberger Straße geschieht folgendes: Liza steht am Eingang ihres Anwesens und begrüßt die Gäste. Als die Reihe an ihn kommt, wird der Tagtraum von der Atmosphäre ruhiger Zärtlichkeit angesteckt. Liza Minelli nimmt seine Hand und sagt zu ihm: „Very Welcome“. Diese zwei Worte sind im Laufe vieler Worte zu einem Refrain geworden. Very Welcome — ein Code für Glück. Im zweiten Teil des Malibu-Traums steht er mit Liza Minelli auf der Bühne und singt. Sie hat ihn einfach aus dem Kreis der Freunde neben sich vors Mikrofon gezogen. Der Film, in dem er mit Liza Minelli singt, hat — wie sonst vor allem sexuelle Tagträume — zwei Kameraperspektiven. Er sieht sich selbst von außen, und er sieht mit seinen Augen ins Publikum. Wollte man Tagträume in literarische Gattungen einteilen, wären diese das Heldenepos und der Liebesroman.

Die Favoritin der eingebildeten Liebesgeschichten heißt, bei Männer wie bei Frauen: die Begegnung; die Begegnung, die der banale Zufall schickt; je banaler, je besser für den Tagtraum, da er seine hohe Kunst darin beweisen kann, den gesichtslosen Alltag in glühende Augenblicke umzuarbeiten.

Gingen alle Tagträume in Erfüllung, wären gerade die ödesten öffentlichen Begegnungsstätten, Warteschlangen in der Post, im Supermarkt, in der Stadtbibliothek, erotische Kraftfelder, wo der Blitz einschlägt. Er trifft auch die grauesten Büros.

Eine Angestellte des Friedenauer Finanzamtes träumt sich ins Gegenteil ihres Privatlebens: statt vom eigenen Mann verprügelt von einem anderen auf Händen getragen zu werden. Dieser andere ist ein Kollege, und in Wirklichkeit hat sie mit ihm noch kein Wort geredet. Sie genehmigt sich die um ihn kreisenden Phantasien wie einen hinter dem Rücken des Mannes gekippten Schluck aus der Hausbar. Da sie einerseits fürchtet, mit verträumt stierenden Augen erwischt zu werden und sich andererseits von der sorgenfreien Stimmung ihrer Einbildungen nicht abhängig machen will, hat sie eine genaue Dosierung der Tagträumerei in ihre Freizeit eingeführt. Sie träumt ausführlich und ausschweifend zweimal die Woche, an den Abenden, wenn ihr Mann außer Haus ist. Sie schließt aber trotzdem, um sich ganz sicher zu fühlen, von innen die Schlafzimmertür ab und legt sich, lange bevor sie müde ist, hin.

Der Arbeitskollege aus dem Finanzamt, von dem sie träumt, macht real den Eindruck eines ausgeglichenen Familienvaters. Den erotischen Szenen ihres Tagtraums gehen eine langwierige Exposition und ein kniffliger moralischer Kommentar voraus. Sie wirken den Gewissensbissen, so überhaupt zu träumen, entgegen und lösen Bild um Bild die Verängstigung, die das Eheleben der Phantasie vererbt. Sie malt sich zunächst detailliert folgendes aus: Der Kollege ist kein Verliebter, sondern ein betrogener Ehemann. Er lebt jedoch nicht im Dilemma, sondern in platonischem Einvernehmen mit seiner Ehefrau. Ein Seitensprung seinerseits würde nur für gerechten Ausgleich sorgen.

Mit äußerster Langsamkeit geht nun die Annäherung im Finanzamt voran. Wie sich die Leidenschaft entfacht und stückchenweise ausgedrückt wird, ist, sagt die Träumerin, „ausgesprochen schülerhaft“. Ein verlängerter Blick beim Mittagessen in der Kantine. Das instinktive Warten aufeinander nach Arbeitsende. Ein kurzer Dialog. Der erste heimliche Kuß. Dann: das erste eindeutige Rendezvouz. Nun zeigt sich, worauf der ganze Tagtraum hinauswill. Dieser Geliebte ist kein gewöhnlicher Mann. Er verwöhnt sie mit der Erfüllung jedes erotischen Wunsches und hat selbst keinen. Er verfügt über einen natürlichen sexuellen Altruismus, eine Erscheinung purer Hingerissenheit für sie und ihren Körper, die ihn den seinen ganz vergessen und im Tagtraum rücksichtsvoll unsichtbar werden läßt.

Es zeigt sich an diesem Beispiel, daß Tagtraumkonzepte in Krisen geraten können, wenn sie — darin ästhetischen Gebilden ähnlich — auf willkürlichen Hypothesen aufgebaut sind und der organisierende Leitgedanke auf zu schwachen Füßen steht. Die Vorteile des Traummannes, der ihr das Gefühl gab, „ein absolutes Luxusgeschöpf“ zu sein, standen außer Frage. Aber warum der Mann so war, wie er war, dafür hatte der Tagtraum keine Erklärung. Dazu kam, daß das reale Vorbild und sein Tagtraum-Double auf Dauer immer weniger in Übereinstimmung zu bringen waren. Der Kollege machte, bei hellem Licht besehen, einfach nicht den Eindruck eines so erlesenen seelischen Raffinements. Sie war drauf und dran, ihm, um ihre Seancen zu retten, sexuelle Verschrobenheit anzudichten. Aber mit einem Verschrobenen wollte sie eigentlich nichts zu tun haben.

Die Lösung lag in einer neuen Betitelung des Tagtraums und seiner speziellen Schäferstündchen. Sie heißen nun „Geschenke“. Ausnahmsweise und um ihr eine besondere Freude zu machen, schenkte er ihr Liebe ohne Gegenleistung. Sie stellt sich nicht mehr vor, daß das die Regel sei in diesem Verhältnis. Aber sie träumt eben nur noch von den Ausnahmen.