Abschied von alten Lebenslügen der SPD

In der nordrhein-westfälischen SPD geistert ein „Modernisierungspapier“ durch die Reihen der Genossen/ „Linke Traditionalisten“ lehnen die Vorstellungen der „Modernisten“ als Kapitulation vor dem neokonservativen Zeitgeist ab  ■ Von Walter Jakobs

Ungewohnte Töne dringen derzeit aus der nordrhein-westfälischen SPD nach außen. Wie die „Kesselflicker“ hauen die GenossInnen aufeinander ein, ganz so, als gelte es, die Grundlagen der Sozialdemokratie neu zu definieren.

Wie kommt man raus aus dem 33- Prozent-Turm? Um diese Frage, die seit dem 2.Dezember in allen Teilen der Partei diskutiert wird, wegen des Golfkrieges aber öffentlich kaum noch wahrgenommen wird, rankt sich ein 16seitiges Papier. Die AutorInnen, fast alle Landesvorstandsmitglieder aus der Generation der 40jährigen, haben es mit dem Titel „Die Modernisierung der SPD“ überschrieben. Ihrer Meinung nach hat sich „die traditionelle gesellschaftspolitische Programmatik und die Problemsicht der Sozialdemokratie mit ihrem 125jährigen Geburtstag weitgehend erschöpft“.

Viele der alten Ziele der SPD seien erreicht. Jetzt aber gehe es darum, neue Perspektiven zu finden, denn eine zur Regierungsübernahme fähige Volkspartei könne die SPD nur werden, wenn sie sich „von ideologischen Altlasten“ befreie. Welche „Altlasten“ konkret gemeint sind, läßt das vom Landesvater Johannes Rau schon wohlwollend beurteilte Papier zwar offen, aber die Botschaft ist für den Juso-Landesvorsitzenden Ralf Krämer dennoch eindeutig: „Es geht um den Abschied vom Sozialismus.“

Innerparteilich zählten einige der inzwischen nur noch „Modernisten“ genannte AutorInnen bisher eher zum gemäßigt linken Parteiflügel: Der Gelsenkirchener Bundestagsabgeordnete Joachim Poß, der ehemalige Juso-Chef Wolfgang Hahn-Cremer, der Recklinghauser Landtagsabgeordnete Bernhard Kasperek, die Vorstandsfrauen Gabriele Behler und Barbara Hendricks, der Landesgeschäftsführer und Rau-Vertraute Bodo Hombach sowie der Vorsitzende des eher linken Bezirks Ostwestfalen, Axel Horstmann. Gerade das Engagement dieses Flügels beunruhigt Juso-Chef Krämer, denn die „Einbindung von Teilen der Parteilinken“ mache das Papier besonders relevant.

Das politische Credo der „Modernisten“ verdichtet sich in zwei Sätzen: „Wir identifizieren uns mit dieser Gesellschaft. Sie muß nicht grundlegend geändert werden.“ Zwar bekennen sich die AutorInnen „zum Prinzip der permanenten Reform“, aber Forderungen nach einer „prinzipiell anderen Gesellschaftsordnung“ seien schon in der Vergangenheit, „auch programmatischen Aussagen zum Trotz“, in der praktischen Politik „nie wirklich von der SPD auf die Tagesordnung gesetzt“ worden.

Geht es nur gegen den „SPD-Sozialklimbim?“

Auch künftige sozialdemokratische Regierungen würden solche Forderungen, so das unumwundene Eingeständnis der „Modernisten“, nicht verfolgen. Doch „der Abschied von alten Lebenslügen“, heißt es weiter, „sollte uns nicht schwer fallen, denn sie sind nutzlos und führen nur zu politisch folgenlosen Grundsatzdebatten, die im übrigen zur Konsequenz haben, daß eine regierende Sozialdemokratie sich in ihrer täglichen Arbeit mit Parteibeschlüssen konfrontiert sieht, von denen sie bei Beschlußfassung schon weiß, daß sie sie gar nicht umsetzen kann“.

Bei der Auseinandersetzung mit den anderen Parteien gehe es nicht mehr um die bessere Ideologie, sondern um die sozialere und intelligentere Problemlösung. „Zwischen dem schwedischen Modell und der Politik Thatchers ist viel Raum für Alternativen. Wir streiten um das WIE der konkreten Ausgestaltung der Marktwirtschaft.“

Tatsächlich kommt diese Beschreibung der real existierenden sozialdemokratischen Regierungspolitik — nicht nur in Nordrhein-Westfalen — sehr nahe. Zurecht weist Mitautor Kasperek darauf hin, daß es sich bei dem Papier im Hinblick auf NRW „sozusagen um eine nachgeschobene Theorie zu einer lange geübten Praxis“ handele. Juso Ralf Krämer will davon nichts wissen. Das Papier sei ein Resultat der „Kapitulation“ vor dem neokonservativen Zeitgeist, atme den Geist des „Opportunismus“. Faktisch werde damit „auf die Durchsetzung sozialer Gerechtigkeit als Ziel der SPD verzichtet“.

Mehrere linke Landtagsabgeordnete der SPD, darunter der stellvertretende Unterbezirksvorsitzende aus Gelsenkirchen, Hans Frey, und die Düsseldorferin Brigitte Speth hauen in einem 11seitigen Gegenpapier in die gleiche Kerbe wie der Juso-Chef. Besonders apart: In Gelsenkirchen geht der Streit quer durch die Parteispitze, denn der Unterbezirksvorsitzende Joachim Poß zählt zu den „Modernisten“, über die es im Frey- Papier heißt: Aus der militanten Frontstellung der „Modernisten“ gegen den „ideologischen Ballast“ der SPD begründe sich der Verdacht, daß es den AutorInnen darum gehe, den ganzen „SPD-Sozialklimbim“ in Frage zu stellen.

„Es tut gut, mal wieder zu diskutieren“

Das wiederum hält Bodo Hombach für einen „demagogischen Vorwurf, denn unsere Kritik an einigen Regelleistungen des Sozialstaates dient doch ausschließlich dem Ziel, solchen Bevölkerungsgruppen zu helfen, die dieser Hilfe auch tatsächlich bedürfen. Den Kindern von Eltern, die 10.000 DM verdienen, muß der Staat nicht auch noch die Schulbücher bezahlen. Das ist Quatsch.“

Die Formulierung im Frey-Papier, wonach es eine historische Grunderfahrung der Arbeiterbewegung sei, „daß Reparaturen am Kapitalismus nicht genügen“, daß eine „neue Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft“ also nötig sei, hält Hombach für bloße Rhetorik. „Ein reales Politikkonzept, das eine Alternative zum tatsächlichen Wirken der Sozialdemokratie beinhaltet, wird damit nicht beschrieben, es sei denn, man verfolgt das Konzept des realen Sozialismus.“

Selbst Gregor Gysi rede inzwischen davon, so Joachim Poß mit Blick auf einige Parteifreunde, daß es nicht mehr um etwas grundsätzlich Neues, sondern um die „Weiterentwicklung“ des jetzigen Systems gehe. „In diesem Punkt scheint es ja schon fast mehr Gemeinsamkeiten mit Gysi zu geben, als mit einigen aus unseren Reihen.“ Insgesamt hält Poß die ganze Aufregung aber für „einen Sturm im Wasserglas“. Einig sind sich die KontrahentInnen darin, daß es der Partei in NRW „gut tut, endlich mal wieder zu diskutieren“.

Noch handelt es sich dabei allerdings weitgehend um eine Geisterdebatte, um eine Pseudo-Diskussion, die sich — ähnlich wie bei den ätzenden Diskussionen innerhalb der Grünen — mehr an den vermuteten, aber nicht offengelegten Absichten der Beteiligten orientiert, als an den tatsächlichen Problemen. Wenn die „Modernisten“ konkretisierten und offensiv darstellten, was mit dem Abschied „von ideologischen Altlasten“ — etwa mit Blick auf das jüngst verabschiedete SPD-Programm — tatsächlich gemeint ist, und wenn die Kritiker die Phrase von der „neuen Ordnung“ substanziierten, könnte aus dem unproduktiven Geschimpfe möglicherweise noch eine fruchtbare Diskussion erwachsen, die umso mehr Gewicht hätte, als die nordrhein-westfälische SPD immerhin ein Drittel aller Genossen in der Bundesrepublik stellt. Die wäre auch für Leute außerhalb der SPD interessant.

Daß selbst in Nordrhein-Westfalen, wo die politische Praxis vom Grundsatz her längst im Sinne der „Modernisierer“ entschieden ist, sich die sozialistische Rhetorik so vehement Bahn bricht, kam überraschend und läßt erahnen, wie groß das Bedürfnis nach identitätsstiftender Politik innerhalb der SPD nach wie vor ist. Damit können die „Modernisten“ nicht dienen. Die Probleme des Glotz'schen Tankers existieren fort.