Der Skandal

■ Weshalb fordert niemand den Rücktritt dieser Regierung? GASTKOMMENTAR

Das parlamentarische Regierungssystem kennt bekanntlich die Ministerverantwortlichkeit: Ein Minister ist zuständig und verantwortlich für das, was in seinem Ressort geschieht und die ihm unterstellten Beamten tun — oder unterlassen. Ob er gegebenenfalls von einem schwerwiegenden Fehlverhalten von Beamten seiner Behörde gewußt hat oder nicht, ob er zu möglichen Fehlentscheidungen Anweisungen gegeben hat oder nicht, spielt dabei keine Rolle. Er trägt qua Amt dafür die volle politische Verantwortung. Falls in seinem Zuständigkeitsbereich, der seinerseits vom Bundeskanzler festgelegt wird, gravierende, schwerwiegende Schäden verursachende Entscheidungen getroffen — oder unterlassen — werden, hat er zurückzutreten. In der BRD ist das selten genug, aber immerhin vorgekommen: Franz Josef Strauß zum Beispiel mußte 1961 nach der 'Spiegel‘-Affäre seinen Hut nehmen.

Wir haben soeben die parlamentarische Rekonstruktion der Regierung — und der Opposition — erlaubt: inmitten der schwersten internationalen Überlebenskrise der Nachkriegszeit. An dieser Krise, an diesem Krieg hat diese Bundesregierung ein hohes Maß von Mitschuld: In ihrer Verantwortlichkeit sind deutsche Waffen exportiert worden und bedrohen nunmehr konkret auch unsere äußere, physische Sicherheit. Noch vor zwei Jahren wurde die Bundesregierung offiziell wegen ihrer Waffenexporte von der UNO gerügt. „Schaden vom deutschen Volk abzuwenden“, schwörte der Bundeskanzler bei der Übernahme seines Amtes. Unter seiner Regierungsverantwortlichkeit, und sei es auch nur durch die offiziell ja zugegebenen Unterlassungshandlungen der ihm unterstellten Behörden, haben deutsche Industrien das chemische, biologische und möglicherweise auch nukleare Waffenpotential des Iraks mit aufgebaut. Daß Juden in Israel mit Gas deutscher Herkunft, wie schon einmal, ermordet werden, ist keine absurde Phantasie mehr. Der Skandal ist unerhört und himmelschreiend. Es muß die ministeriale, beziehungsweise in diesem Falle die ressortübergreifende Verantwortlichkeit der gesamten Bundesregierung für diese Ungeheuerlichkeit festgestellt werden.

Warum hat kein Oppositionssprecher das bei geringerem Versagen schon Selbstverständliche gefordert, nämlich den Rücktritt dieser Bundesregierung? Es ist wohl — um mit Brecht zu sprechen —, weil die große Dimension des Verbrechens dieses selbst unsichtbar macht. Ekkehart Krippendorff

Professor für politische Wissenschaften an der Freien Universität Berlin