: »Es wird zu Begnadigungen kommen«
■ taz-Interview mit dem Justizminister von Brandenburg, Hans-Otto Bräutigam (parteilos), über Probleme der Justizpolitik
Einen Diplomaten hat sich Ministerpräsident Stolpe (SPD) als Justizminister in sein Kabinett geholt: Hans- Otto Bräutigam (60) leitete als Nachfolger Klaus Böllings von 1982 bis 1988 die Ständige Vertretung der Bundesrepublik in Ost-Berlin. Bräutigam gehörte seit 1962 dem Auswärtigen Amt an und zählte zur Mannschaft Egon Bahrs, die den Grundlagenvertrag ausarbeitete. Zuletzt war er Bonns Botschafter bei den Vereinten Nationen in New York.
taz: Sie müssen einen neuen Justizapparat aufbauen und gleichzeitig die »alten« Richter des SED-Regimes durch neue ersetzen. Ist es Ihnen schon gelungen, die Maschinerie in Gang zu setzen?
Hans-Otto Bräutigam: Die Justiz kann man nicht so einfach »anwerfen«, so, als ob man in einen Motor einfach ein paar Ersatzteile einfügt. Die Neuordnung der Justiz wird Zeit brauchen. In der deutschen Rechtsgeschichte hat es das wohl nie gegeben, daß quasi über Nacht in ein Gebiet ein neues Recht eingeführt wird, das weder die Juristen noch die Bevölkerung kennen und auch nicht kennen können.
Die Rechtspflege, so scheint's, ist weitgehend außer Kraft gesetzt in der Ex-DDR...
Nein, in den neuen Ländern herrschen keine anarchischen Zustände. Es wird wird mehr gearbeitet als früher. Insgesamt sind 1990 in Brandenburg über 85 Prozent der eingegangenen Fälle entschieden worden. Nur bei den explosionsartig angewachsenen arbeitsrechtlichen Streitigkeiten waren es lediglich 55 Prozent. Hinzu kommt, daß wir nur ein Drittel der Richter im Vergleich zu den alten Ländern haben.
Wie weit sind Sie gekommen bei der Überprüfung und Neueinstellung des zukünftigen Richterpersonals?
Wir hatten auf dem jetzigen Gebiet des Landes Brandenburg knapp 300 Richterstellen. Von diesen Stellen sind jetzt noch ungefähr 250 Stellen besetzt. Diese Richter sind nicht im Wartestand, sondern amtieren und sehen, soweit sie sich für eine Richterstelle nach der neuen Gesetzlage bewerben, ihrer Überprüfung entgegen.
Alte Richter richten also erst mal weiter...
Man kann nicht einfach eine Justiz komplett lahmlegen. Die Volkskammer hatte bestimmt, daß die Überprüfung der Richter und Staatsanwälte bis zum 15. April dieses Jahres abgeschlossen sein sollte. Allerdings hat die Volkskammer sehr wenig unternommen, um diesen Prozeß der Überprüfung in Gang zu setzen. Die Richterwahlausschüsse haben deshalb mit der Arbeit nicht rechtzeitig beginnen können, obwohl die »Ordnung« über die Ausschüsse schon im Juli des letzten Jahres beschlossen worden war. Dadurch sind Verzögerungen eingetreten. Außerdem ist dieses Gesetz mit heißer Nadel gestrickt worden.
Aha?
Einige Bestimmungen sind so nicht praktikabel. Man hätte auch sehen müssen, daß die Ausschußmitglieder selbst auch überprüft werden müssen, bevor sie mit der Überprüfung anderer Bewerber beginnen.
Arbeiten die Richterwahlausschüsse denn schon? Und können Sie gewährleisten, daß die Mitglieder dieser Ausschüsse selbst unbelastet sind?
Das kann ich zur Zeit nicht gewährleisten. Das Amt zur Auflösung der Staatssicherheit ist völlig überlastet und hat uns noch nicht alle notwendigen Auskünfte geben können. Die Einhaltung des Stichtages 15. April ist daher unrealistisch. Die Richterwahlausschüsse in Brandenburg haben aber insoweit mit der Arbeit begonnen, als daß sie die sehr wichtigen Entscheidungsgrundsätze für ihre Arbeit beschlossen haben.
Sie haben ein Vorschlags- wie Vetorecht bei jedem Anwärter auf ein Richteramt. Was sind Ihre Kriterien?
Erstens möchten wir sicher sein, daß bei einem Richter oder Staatsanwalt im Hinblick auf sein Verhalten in der Vergangenheit noch eine Vertrauensgrundlage in der Bevölkerung besteht. Wenn jemand über das systembedingte Verhalten hinaus ein erhebliches Maß individueller Schuld auf sich geladen hat — etwa im Bereich des politischen Strafrechts — wird man das nicht bejahen können. Zweitens muß ein Bewerber für ein Richteramt Gewähr dafür bieten, daß er sein Amt unabhängig und unparteiisch führen wird und daß er sich aus Überzeugung von der freiheitlich-demokratischen Grundordnung leiten lassen wird. Das ist nicht einfach festzustellen, kann naturgemäß auch nur eine Prognose sein. Darum werden überprüfte Richter auch zunächst nur auf Probe eingestellt werden.
Welche Erfahrung haben Sie in Geprächen mit diesen Bewerbern gemacht?
Nach meinen jetzigen Eindrücken und denen aus meiner früheren Tätigkeit in der Ständigen Vertretung haben nicht wenige Juristen in der alten DDR das Recht anders verstanden, als es ihnen durch die marxistisch-leninistische Lehre vermittelt worden war: nämlich nicht als politisches Herrschaftsinstrument, sondern als Mittel für einen gerechten Ausgleich in sozialen Konfliktlagen. Das heißt, sie haben es als Teil eines humanistischen Auftrags verstanden.
Wie steht es um den Aufbau einer gemeinsamen, zweiten Arbeits-, Finanz-, Verwaltungs- und Sozialgerichtsinstanz mit West-Berlin ... pardon, Berlin?
Symptomatisch, daß Sie erst West-Berlin sagten. Viele denken offenbar, daß West-Berlin Ost-Berlin mitverwaltet. Das stimmt aber so nicht. Natürlich werden wir uns mit Berlin verständigen, aber nicht alles ist von gleicher Dringlichkeit. Das Arbeitsrecht steht da an erster Stelle. Aber zunächst müssen einmal die Arbeitsgerichte in der ersten Instanz mit der Lawine von neuen Fällen fertig werden. Dafür müssen sie verstärkt werden.
Eine der größten und auch berüchtigsten Haftanstalten der Ex- DDR, die Justizstrafanstalt Brandenburg, liegt in Ihrem Kompetenzbereich. Wie gehen Sie die Reform des Strafvollzugs an?
Die Reform des Strafvollzugs ist eine der wichtigsten Arbeitsfelder für uns. Ich lasse mich da von den in den alten Bundesländern geltenden Formen des Vollzuges leiten. Ein Problem dabei wird sein, daß wir für einen neuen Strafvollzug, der sich an der Wiedereingliederung der Häftlinge in die Gesellschaft orientiert, nicht genügend qualifiziertes Personal haben. Darum sind auch hier Umschulung und Fortbildung besonders wichtig.
Bei der Urteilsüberprüfung rechnen sich die Häftlinge nicht viele Chancen aus, weil die Urteile nur anhand der Akten überprüft werden und nicht noch einmal erneut in die Beweisnahme eingetreten wird.
Diese Befürchtung teile ich nicht. In der weitaus größten Justizstrafanstalt Brandenburg haben zwei Ausschüsse mit der Überprüfung der früher gefällten Urteile begonnen. Sie prüfen nicht nur die Akten, sondern führen auch Gespräche mit den Häftlingen. Ich gehe davon aus, daß es in zahlreichen Fällen zu Begnadigungen, einer Verkürzung von Haftstrafen beziehungsweise einer Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung und auch zur Wiederaufnahme von Prozessen kommen wird.
Wird das bundesrepublikanische Recht der Situation in den neuen Bundesländern überhaupt gerecht?
Möglicherweise nicht in allen Bereichen. Ich kann aber noch nicht im einzelnen abschätzen, wo es größere Probleme bei der Anwendung des neuen Rechts geben wird. Wir werden auch insoweit Spannungen aushalten müssen. Das ist aber immer noch besser, als jetzt mit heißer Nadel irgendwelche Gesetze zu ändern.
Sind den Westlern diese Probleme bewußt?
Aber natürlich nicht. Und das ist ja auch kein Wunder.
Und ein Grund zum Verzweifeln. Auch für Sie?
Jeden Tag zehnmal, und dennoch sage ich mir am Abend: Es ist eine große Chance, am Aufbau einer neuen Ordnung mitzuwirken.
Sie amtieren in einer Ampelkoalition aus SPD, Bündnis 90 und FDP. Ist das eine günstige Voraussetzung für die Umsetzung Ihrer Ziele?
Dreimal ja. Jeder Teil dieser Koalition bringt etwas Spezifisches ein, was der andere so gut vielleicht nicht einbringen kann. Wir sind gut verheiratet hier. Wir sind kein »auslaufendes Modell«, wie haben gerade erst angefangen.
Das Gespräch führten:
Nana Brink/Plutonia Plarre
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