Hans Heimatlos der Name

Uwe Kolbes lyrisches Fahrtenbuch „Vaterlandkanal“  ■ Von Michael Braun

Es bedeutet schon ein ästhetisches Risiko, wenn man als Lyriker die dröhnende Vokabel „Vaterland“ in den Titel einer Gedichtsammlung rückt. Um die negativen Konnotationen dieses nicht nur historisch, sondern auch poetisch vorbelasteten Begriffs abzuwehren, hat Uwe Kolbe zu einer metaphorischen List gegriffen: Er hat das „Vaterland“ zum poetischen Kompositum „Vaterlandkanal“ erweitert. Trotz dieser Verfremdung bleibt die gewünschte Assoziation zu denVaterländischen Gesängen Hölderlins erhalten; eines Dichters, dem sich Kolbe heute stärker verbunden fühlt als seinen einstigen Weggefährten von der „Prenzlauer-Berg-Connection“. An der freirhythmischen und hochpathetischen Verssprache Hölderlins hat Kolbe seine lyrische Diktion geschult. Zugleich versucht er den unvermeidlich hohen Ton hölderlinesker Gedichte durch lapidare Stilbrüche und derbe Schnoddrigkeiten zu konterkarieren. Auf hymnische Zeilen („Ich jage dem Herzen nach“) folgen bewußt gesetzte Vulgaritäten: „Doch back ich, und brau ich/ und hole den deutschen Prinzen/ herunter zur Wichsvorlage.“ Dieses Schwanken zwischen Pathos und Ironie, die schroffen Brüche zwischen lyrischer Kunst- und lockerer Alltagssprache sind seit je wesentliche Charakteristika von Kolbes Texten. Die Gedichte und Prosagedichte, die Kolbe nun in sein lyrisches „Fahrtenbuch“ einträgt, beschreiben die Erfahrung eines allmählichen Heimatverlusts.

1987 verließ Uwe Kolbe das Land des real existierenden „Krämerkommunismus“ und begab sich auf Erkundungsfahrt durch die Länder und Städte der westlichen Welt. Die geographischen Stationen dieser Reise ins Offene spiegeln sich nun in den einzelnen Kapiteln des Bandes Vaterlandkanal wider: Amsterdam, Berlin, Salzburg, Hamburg, New York. In all diesen Städten wird der Dichter Kolbe von seiner Herkunftsgeschichte eingeholt. „Ach sing uns ein kleines Liedchen“, fordert man den „fahrenden Deutschen in Holland“ auf, „sing ruhig vom kleinen Teutschland, das einst so groß war und stolz“ — und der Lyriker Kolbe folgt diesem Appell, nicht ohne gelegentlich mit einer sentimental eingefärbten Deutschland-Wehmut zu kokettieren. Den literarischen Abstand zwischen dem einstigen Prenzlauer- Berg-Rebellen und dem heutigen heimatlosen Dichter Uwe Kolbe markieren die Gedichte im mittleren Teil des Bandes, die, wie eine editorische Notiz vermerkt, im SED-Staat übereifrigen Zensoren zum Opfer gefallen sind. „Zugeb ich, daß ich ganz privat/ so reflektiere nah am Hochverrat“, so spottet das „radikale Ich“ dieser munter kommunikativen Texte und mokiert sich über „das gewisse Geschwafel“ realsozialistischer Kulturverwalter.

Heute gleichen Kolbes Gedichte dunklen, sprachmagnetischen Exerzitien, die sich neben den Versen Hölderlins die Dichtung des deutschen Expressionismus zum Vorbild erkoren haben. „Alles hat für mich eigentlich mit der Menschheitsdämmerung angefangen“. Dieses Bekenntnis Kolbes zur legendären Expressionismus-Anthologie von Kurt Pinthus hat nichts von seiner Aktualität verloren. Denn bei eingehender Beschäftigung mit seinen Gedichten zeigt es sich, daß Kolbe so manche Metapher aus dem expressionistischen Jahrbuch in sein lyrisches „Fahrtenbuch“ eingeschmuggelt hat. So verweist er im GedichtHamburger Frischfisch in kryptischen Anspielungen auf das Schicksal eines Dichters aus der Menschheitsdämmerung, der sein Leben lang heimatlos zwischen den Sprachen und Kulturen umherirrte: „— Erlebnislyrik, große Not, ein feuchtes/ Überborden, Hans Heimatlos der Name./ Kam hergeschwommen, ließ es hinter sich,/ sein Wilhelmsstrand, sein Vaterlandkanal.“ Das ist zunächst als verschlüsselte autobiographische Notiz zu lesen: Wie der umhergetriebene Reisende des Gedichts hat Kolbe in Hamburg ein vorübergehendes Domizil gefunden. Der „Hans Heimatlos“ des Gedichts, so darf man philologisch spekulieren, ist zugleich ein Synonym für „Jean Sans Terre“ bzw. „Johann Ohneland“ — ein poetischer Held des expressionistischen Dichters Yvan Goll. Wie Kolbe läßt Goll seinen „Johann Ohneland“ auf einem „Fischmarkt“ agieren. Auch der Buchtitel Vaterlandkanal erweist sich schließlich als eine poetische Anverwandlung eines Gedichttitels von Yvan Goll. Denn 1912, im Jahr der poetischen Revolutionen, schrieb Goll ein später in der Menschheitsdämmerung gedrucktes Gedicht, das möglicherweise zur Hauptinspirationsquelle für Kolbe geworden ist. Der Titel des Goll-Gedichts lautet: Der Panama-Kanal.

Uwe Kolbe: Vaterlandkanal. Ein Fahrtenbuch , Suhrkamp Verlag 1990, 94 Seiten, 22DM