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Faires „Judgement“ erst am Jüngsten Tag?

Donnerstag steht eine „Voruntersuchung“ des Falls der „Birmingham Six“ an/ Die sechs Iren sitzen seit über 16 Jahren unschuldig im Gefängnis/ Immer noch weigert sich die britische Justiz, den Skandal einzugestehen/ Richter wollte sich durch einen Freispruch „nicht das Weihnachstfest verderben“  ■ Aus Dublin Ralf Sotscheck

Eines der größten Justizverbrechen in der britischen Geschichte geht in die nächste Runde: Übermorgen findet vor einem Londoner Gericht eine weitere „Voruntersuchung“ des Falls der „Birmingham Six“ statt. Eine Freilassung der sechs Iren ist dabei kaum zu erwarten, hatte die britische Gerichtsbarkeit die Unschuldsbeweise in der Vergangenheit beharrlich ignoriert. Erst im Dezember, bei der letzten „Voruntersuchung“, verwarf Richter Farquharson den Antrag der Verteidigung auf Freispruch mit beispiellosem Zynismus: „Ich glaube nicht, daß wir uns dadurch das Weihnachtsfest verderben lassen sollten.“ Für die Birmingham Six war es das 17. Weihnachtsfest hinter Gittern.

Die sechs Iren waren 1974 zu 21 Mal lebenslänglicher Haft verurteilt worden, weil sie angeblich Bombenanschläge auf zwei Kneipen in Birmingham verübt hatten. Bei den Attentaten kamen 21 Menschen ums Leben, 162 wurden verletzt. Die Bomben lösten eine antiirische Pogromstimmung in Großbritannien aus. Irische Kneipen, Schulen, Läden und ein Gemeindehaus gingen in Flammen auf. Viele Iren wurden an ihren Arbeitsplätzen verprügelt, Waren von der Nachbarinsel boykottiert. In einer 17stündigen Sondersitzung beschloß das britische Unterhaus damals weitreichende Notstandsgesetze zur „Terrorismusbekämpfung“ (Prevention of Terrorism Act — PTA). Das Oberhaus brauchte zur Verabschiedung der Gesetze nur zwei Minuten.

Die Anklage gegen die Birmingham Six ist inzwischen völlig zusammengebrochen. Ihre Verurteilung stützte sich damals auf die „Geständnisse“ von vier der Angeklagten sowie einen forensischen Test des Wissenschaftlers Frank Skuse, der Sprengstoffspuren an den Händen der Männer nachgewiesen hatte. Der britische Journalist und Labour-Abgeordnete Chris Mullin bewies jedoch in einer Fernsehsendung 1986, daß der forensische Test völlig unzuverlässig ist. Die durch ihn nachgewiesenen „Sprengstoffspuren“ können genausogut von Spielkarten, Lacken u.ä. stammen. Das war dem Gericht freilich längst bekannt: Skuse hatte 1974 auch Abstriche von den Fingern unverdächtiger Passagiere auf der Fähre genommen, auf der die Birmingham Six verhaftet worden waren. Bei zweien dieser Passagiere war das Ergebnis ebenfalls positiv. Diese Tatsache ist der Verteidigung jedoch erst vor wenigen Monaten mitgeteilt worden. Skuse wurde 1986 — drei Tage nach Mullins Fernsehsendung — in den vorzeitigen Ruhestand versetzt.

Darüber hinaus hatte Mullin über Kontaktleute die wirklichen Bombenleger in der Republik Irland aufgespürt und erfuhr Einzelheiten, die nur den Tätern bekannt sein konnten: „Ich zeichnete eine grobe Skizze der Kneipe und bat ihn, den Punkt zu markieren, wo er die Bombe plaziert hatte“, schrieb Mullin in seinem Buch Error of Judgement. „Ohne zu zögern kennzeichnete er einen Punkt am hinteren Ende der Kneipe. Es ist schwer zu verstehen, wie jemand, der unmöglich Zugang zu den Prozeßakten haben kann, den Ort so genau markieren kann, an dem die Bombe plaziert war. Es sei denn, er war dabei, als die Bombe gelegt wurde.“ Bei der Wiederaufnahme des Verfahrens im November 1987 erklärte die Polizistin Joyce Lynass, die Geständnisse seien aus den Angeklagten bei den Verhören herausgeprügelt worden. Ein Jahr später bestätigte ein Wärter diese Aussage und erklärte, die Gefangenen hätten bereits bei ihrer Ankunft im Gefängnis zahlreiche Wunden aufgewiesen. Das habe er schon bei einer polizeiinternen Untersuchung 1974 ausgesagt. Dennoch lehnte Lordrichter Lane die Freilassung der Gefangenen ab. Ihre Privatklage gegen die prügelnden Polizeibeamten wurde gar nicht erst zur Verhandlung zugelassen. Lordrichter Dennings inzwischen berüchtigte Begründung lautete: „Falls die sechs Männer verlieren, hieße das, daß viel Geld für keinen guten Zweck verschwendet worden ist. Falls sie jedoch gewinnen sollten, würde das bedeuten, daß die Polizei des Meineids, der Gewalt und Einschüchterung schuldig wäre und daß die Geständnisse unfreiwillig und die Verurteilungen falsch wären. Das ist eine so entsetzliche Aussicht, daß jeder vernünftige Mensch im ganzen Land sagen würde: Es kann nicht richtig sein, daß diese Klage zugelassen werden darf.“ Was nicht sein darf, kann nicht sein. Der Belfaster Schriftsteller und Mitbegründer der nordirischen Bürgerrechtsbewegung, John McGuffin, bemerkte dazu lapidar: „Was ist von einem Schwein schon anderes zu erwarten als ein Grunzen?“

In Sommer 1989 mußte das britische Innenministerium auf Mullins Anfrage jedoch zugeben, daß die West-Midlands-Polizei, die für die Verhöre der Birmingham Six zuständig war, in anderen Fällen gewaltsam Geständnisse von Angeklagten erzwungen hatte. Die Polizeiopfer mußten daraufhin nach zum Teil jahrelanger Haft entlassen und entschädigt werden. Die West-Midlands- Einheit ist inzwischen aufgelöst worden. Die Beamten wurden auf andere Einheiten verteilt. Bei der vom Innenministerium angeordneten Untersuchung der Fälle stellte sich im Sommer heraus, daß die Notizen des Verhörs von Richard McIlkenny, einem der Birmingham Six, von der Polizei gefälscht worden waren. So gab es Notizen von Verhören, die überhaupt nicht stattgefunden hatten. Im vergangenen August verwies der damalige britische Innenminister David Waddington den Fall deshalb zurück an das Berufungsgericht. Das Verfahren soll am 25. Februar beginnen. Der Abschlußbericht der Untersuchung über die Verhörmethoden der West-Midlands-Polizei ist gestern dem Generalstaatsanwalt übergeben worden und wird übermorgen vermutlich zur Sprache kommen.

Chris Mullin glaubt dennoch nicht, daß die Richter den Justizskandal eingestehen werden. Er sagte: „Die einzige Chance der Birmingham Six ist es, wenn die Staatsanwaltschaft die Anklage zurückzieht.“ Die britische Gerichtsbarkeit wehrt sich mit Händen und Füßen gegen eine Revision des Urteils, da sie sich mit der Aura der Unfehlbarkeit umgeben hat. Sollte den Birmingham Six dennoch späte „Gerechtigkeit“ widerfahren, so wären auch die Sondergesetze zur Terrorismusbekämpfung diskreditiert, die nach dem Attentat von Birmingham verabschiedet wurden und der Polizeiwillkür seitdem Tür und Tor öffnen.

Die Kampagne für die Freilassung der sechs Iren hat inzwischen weite Kreise gezogen. Politiker, Schriftsteller, Künstler und Bischöfe setzten sich für sie ein, und Zehntausende nahmen an phatasievollen Demonstrationen in Dublin teil. Der vergreiste Lordrichter Denning hätte den Fall gerne anders gelöst. In einem Interview in der Zeitschrift 'Spectator‘ sprach sich Denning im vergangenen Sommer mal wieder vehement für die Todesstrafe aus. Seine Logik war verblüffend: Hätte man die Birmingham Six damals gehängt, so würde es heute keine Kampagne für ihre Freilassung geben.

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