Niemand glaubt mehr an Reformen

Brasilien: Fünfter Lohn- und Preisstopp innerhalb von fünf Jahren/ „Ein Plan der Bürokraten“  ■ Aus Rio Astrid Prange

In Brasilien vergeht die Zeit schneller als im Kino. „Zu Beginn des Films ist die Welt noch in Ordnung. Doch wenn man aus dem Kino kommt, hat sich bereits alles verändert“, kommentiert José Leontino Bandeira, Anwalt aus Rio de Janeiro, den neuen Wirtschaftplan der brasilianischen Regierung zur Bekämpfung der Inflation. Als er am vergangenen Freitag abend das Kino verließ, waren Preise und Löhne bereits eingefroren, Benzinpreise und Telefongebühren um über 50 Prozent gestiegen, und die Möglichkeit, sein Geld über Nacht gewinnbringend in Wertpapieren und Staatsanleihen anzulegen („overnight“), existierte nicht mehr.

Durch die Abschaffung des „overnight“ will Wirtschaftsministerin Zelia Cardoso de Mello der inflationären Spekulation den Garaus machen und das vorhandene Geld in produktive Investitionen umlenken. Gleichzeit mit dem „overnight“ wurde auch der Index „BTN“ abgeschafft, durch die Gehälter, Mieten und Dienstleistungen festgelegt wurden. Die Hoffnung der Ministerin, durch die Abschaffung der Indikatoren auch der Inflation ein Ende zu bereiten, ist jedoch äußerst fraglich. In Zukunft wird die Inflation wieder nur am Dollarkurs gemessen.

Kritiker sehen in der Verkündigung des zweiten Wirtschaftspakets seit dem Amtsantritt von Präsident Collar de Mello am 15. März 1990 einen Akt der Verzweiflung. „Die brasilianische Regierung will sich auf Kosten der Gesellschaft und der privaten Industrie vor ihrem endgültigen Schiffbruch retten. Nur ein Bürokrat kann daran glauben, daß es möglich ist, die Preise einzufrieren und gleichzeitig Treibstoff, Elektrizität und Telefongebühren zu erhöhen“, kritisiert die Tageszeitung 'Folha de Sao Paulo‘.

Das Vorhaben von Wirtschaftsministerin Zelia Cardoso de Mello, Brasiliens chronische Inflation durch eine rezessive Wirtschaftspolitik zu bekämpfen, ist nach zehn Monaten wahrhaftig gescheitert. Das Bruttosozialprodukt ist im vergangenen Jahr um 4,4 Prozent gesunken, und in Sao Paulo, der wichtigsten Industriestadt des Landes, betrug die offizielle Arbeitslosigkeit im Januar 10,3 Prozent. Dennoch kletterte die Inflation jeden Monat wieder beharrlich nach oben — im Januar überwand sie die 20-Prozent-Hürde.

Die Gewerkschaften sehen in dem neuen Wirtschaftsplan wieder ein Mittel, um Löhne und Gehälter noch weiter hinabzudrücken und haben der Wirtschaftsminsterin sogleich ihre Unterstützung versagt. Mangels Kontrolle würden nur die Löhne, nicht jedoch die Preise eingefroren werden, meint Gilmar Carneiro dos Santos, Generalsekretär der CUT, der größten Gewerkschaft Brasiliens. „Wenn die Unternehmer ihre Preise nicht erhöhen können, lagern sie ihre Produkte ein, und es kommt wieder zu Versorgungsengpässen“, prophezeit er.

Die Vereinigung brasilianischer Unternehmer aus Sao Paulo (FIESP) warf der Regierung vor, sich selbst zu widersprechen: „Offiziell gibt sich die Regierung liberal, doch in Wirklichkeit greift sie immer stärker in die Wirtschaft ein“, erklärte FIESP-Vorsitzender Mario Amato, der vom Einfrieren der Löhne und Preise nichts hält.

Die brasilianische Bevölkerung hat nach vier solcher Stops innerhalb von fünf Jahren jeglichen Glauben an Wirtschaftsreformen aufgegeben. So vermutet der 25jährige Verkäufer Claudio Tosta Coimbra: „Collor ist beleidigt, weil er weniger im Fernsehen vorkommt als Saddam Hussein. Deswegen bombardiert er jetzt die Bevölkerung mit einem neuen Wirtschaftsschock.“