Mitleidlos

■ Die Verdrängung der Opfer verdrängt die Menschlichkeit

Es ist ja nicht so einfach, das Gebot „Du sollst nicht töten!“ zu wenden in „Du sollst töten!“. Zumal, wenn bekannt ist, daß in einem modernen Krieg Soldaten nicht mehr in erster Linie Soldaten töten, sondern weit mehr wehrlose Zivilisten, Frauen und Kinder. Große Anstrengung und vieler Lügen bedarf es, dieses massenhafte Vernichtungswerk psychisch erträglich zu machen. Angestrebt und zum großen Teil erreicht werden zwei Ziele: 1. Geglaubt werden muß an die absolute moralische Qualität der eigenen Partei und entsprechend an die absolute Bösartigkeit des Feindes. 2. Zu verhindern sind alle Eindrücke, die aggressionshemmendes Mitgefühl mit den Opfern aufkommen lassen könnten.

Die Gegenseite als Repräsentanz des Ur-Bösen erscheinen zu lassen, verlangt ihre Personalisierung, das heißt die Verschmelzung eines ganzen Volkes mit der Figur seines — im Falle des Irak in der Tat furchtbaren und verbrecherischen — Führers. Also muß gedacht werden, alle eigenen Bomben und Raketen zielten nicht vor allem auf Massen von Mißbrauchten, Ahnungslosen und vielleicht auch heimlich Opponierenden, sondern letztlich nur auf diese Teufelsgestalt. Zurückgedrängt werden muß vor allem auch die Erinnerung daran, daß die militärische Macht dieses Mannes das eigene Verschulden der ihn jetzt bekämpfenden Lieferanten-Mächte widerspiegelt. Denn eine ungetrübte moralische Selbstheiligung ist das Fundament der Verabsolutierung des Feindbildes, das die psychologische Infrastruktur der Kriegsbereitschaft stabil hält. Schwieriger ist, aus dem Bewußtsein das Elend fernzuhalten, das die „gerechten“ Bomben und Raketen der getroffenen Bevölkerung bereiten. Nicht einmal blutende oder tote Soldaten der eigenen Seite soll das Medienpublikum zu Gesicht bekommen, nur schießende Kanonen, startende Flugzeuge, Laser-gesteuerte Bomben, Rauchwolken, Ruinen, zerstörte Fahrzeuge.

„Ich fühle mich irgendwie schuldig, daß ich daran nichts ändern kann, was den Menschen am Golf angetan wird!“ hörte ich dieser Tage in einer Schulklasse von einer bedrückten Zwölfjährigen. Aber keinem Kind dieser Klasse fiel es ein, sich über ihre Betroffenheit zu mokieren — während unter den Großen bekanntlich Betroffenheit neuerdings als tabuisiert gilt. Man möchte nicht mehr durch Schopenhauers Ethik irritiert werden, wonach Mitleid das Fundament der Moral und der menschlichen Kardinaltugenden ist. Sie sei die Anlage unserer Natur, die uns zu unmittelbarer Anteilnahme am Wohl und Wehe der anderen verpflichte und unsere eigentliche Menschlichkeit ausmache. Natürlich genügt Mitleid allein nicht. Aber wer wollte bestreiten, daß mit der sozialen Sensibilität, wie sie diese Zwölfjährige bekundet, eine wesentliche Gegenkraft gegen die Rechtfertigung kriegerischer Gewalt systematisch unterdrückt wird? Wer dieser Tage mehrfach in die Lage gerät, Kindern dieser Altersgruppe die Rationalität des gegenwärtigen Krieges erklären zu sollen, hat es schwer. Und es kann einem wie mir ergehen, daß man in dem Entsetzen, im Unverständnis und in den besorgten Zukunftsvorstellungen vieler dieser Kinder mehr Vernunft verspürt als in zahlreichen Experten-Statements der täglichen Talkshow- Runden. Horst-Eberhard Richter